TQW Magazin
Barbara Kraus über Walking:Holding von Rosana Cade

Handreichungen. Vom Wissen der Hände

 

Handreichungen. Vom Wissen der Hände

 

Ein performativer Erfahrungsbericht in neun Akten

Akt 1

Augen schließen. Drei Atemzüge. Augen öffnen. Die Performance beginnt. Alles ist Performance.

Akt 2

Meine kalte Hand in deiner warmen Hand. Wir kennen uns nicht, und du fragst mich, wann ich heute jemandem die Hand gegeben habe. Dem Arzt im Spital vor und nach der Befundbesprechung meiner Mutter, antworte ich dir. Intime Mitteilung, gut aufgehoben in der Wärme deiner Hand, die vertraut wird und Vertrauen vermittelt. Uns an den Händen haltend gehen wir gemeinsam eine belebte Wiener Einkaufsstraße entlang. Die Stadt nehme ich kaum wahr, wir sind eine kleine Insel. Ich wechsle die Seite, damit auch die andere Hand in den Genuss deiner warmen Hand kommt, sich aufwärmen darf. Du erzählst von der Ähnlichkeit zwischen den Fledermäusen und den Menschen. Wir haben ähnliche Hände und die Fähigkeit, längere Zeit auf dem Kopf zu stehen.

Akt 3

Vor dem Café Sperl werden unser angeregtes Gespräch und die eben begonnene Vertrautheit unterbrochen. Ein junger Mann fragt mich nach dem Weg zum Tanzquartier. Bereitwillig erkläre ich es ihm, diese Gegend und ihre Wege sind mir vertraut. Ich kapiere gar nicht, dass das Teil der Performance ist, und bin irritiert, als sich herausstellt, dass er mein nächster Wegbegleiter sein wird. Reingefallen. Hatte völlig vergessen, dass ich Teil einer Performance bin, also alles Inszenierung ist, aber die Wärme der Hand war doch real, oder?

Akt 4

Wir gehen die Gumpendorfer Straße stadtauswärts. Du bist unsicher, ich spüre das an der Art und Weise, wie du meine Hand hältst, dein Arm ist hochgezogen, vielleicht hat dich mein Ärger verunsichert, schlechter Einstieg für eine neue Begegnung. Wir biegen ab in die Laimgrubengasse. Du erzählst von einem Durchgang, der zu einem magischen Ort führt, den du mir gerne zeigen würdest, und bittest mich, die Augen zu schließen, weil du mich überraschen möchtest. Kann ich dir vertrauen? Der Raum öffnet sich, du schenkst mir einen neuen Blickwinkel. Kreisrunder Himmel, grün umrankt von einem Blätterdach. Stadtoase.

Akt 5

Wir sind in einem Park an der Wienzeile gelandet. Dort an einem Tisch sitzt du, die neue Weggefährtin. Imposante Erscheinung, es umgibt dich ein Flair von Weltgewandtheit. Ich werde weitergereicht, von einer Hand zur nächsten. Seltsam, diese Diskrepanz von Fremdheit und Nähe, dort, wo sich unsere Hände berühren, fühlt es sich sehr schnell vertraut an, aber wir kennen uns doch gar nicht, wissen nichts voneinander, doch die Hände begreifen sich, die Worte, die wir teilen, sind im Grunde belanglos. Was zählt, ist, dass wir hier gemeinsam gehen und uns Halt geben. Wir gehen durch die Fresszeile des Naschmarkts. Wir werden angeschaut, zumindest fühlt sich das so an. Erstmalig fallen mir Blicke von Passant*innen auf. Du bist diesen Weg bereits gegangen, mit anderen gegangen, genauso wie mit mir jetzt. Hände haltend. Vielleicht deshalb die Blicke.

Akt 6

Eine fremde Hand berührt von hinten meine Schulter. Ich erschrecke. Ein lachendes junges Gesicht, eine Hand, die meiner ähnlich ist. Du führst mich zu einem Spiegel. Wir sehen unser Spiegelbild. Das ist mir ein bisschen unangenehm. Du, dieses junge, frische, fröhliche Wesen, daneben ich, diese – von den Ereignissen des Tages – mitgenommene Frau. Unser gemeinsames Bild sieht trotzdem fröhlich aus. Wir werden sehr schnell vertraut miteinander, ich könnte deine Mutter sein. Du fragst mich, wie es mir geht, und ich erzähle dir von meiner Mutter und von der Ausnahmesituation, in der sich meine Familie zurzeit befindet. Du warst gerade noch eine fremde Hand auf meiner Schulter, jetzt bist du zu einem empathischen, anteilnehmenden Gegenüber geworden.

Akt 7

Schon wieder ein Abschied und eine neue Hand in meiner. Wir gehen von der Secession durch die Passage Richtung Oper. Du erzählst mir, dass du neugierig bist, wie dieses Projekt dein Verhältnis zu anderen Menschen verändern wird, dass du im Grunde Berührungen von Fremden nicht magst und gleichzeitig erstaunt darüber bist, wie viel Nähe durch diese Geste des „Sich-an-den-Händen-Haltens“ ermöglicht wird. Eine Form der Nähe, die in unserem Kulturkreis normiert ist, in der Öffentlichkeit nur in intimen Beziehungen und zwischen bestimmten Personengruppen gesellschaftlich toleriert wird. Mir fallen deine Schuhe auf und der Schweiß, der zwischen unseren Händen entstanden ist.

Akt 8

Bei der Oper findet die nächste Übergabe statt. Du sitzt im Rollstuhl und bittest mich, meine Hand auf deine Schulter zu legen. Meine Frage, warum du im Rollstuhl sitzt, möchtest du nicht beantworten, denn du hörst diese Frage zu oft, findest sie belanglos und sagst mir, dass du mich ja auch nicht nach meiner Behinderung fragst. Du hast natürlich völlig recht, und ich schäme mich. Ganz schön herausfordernd, diese Tour, ich spüre meine Erschöpfung und wie sich mit jeder neuen Begegnung etwas öffnet oder auch schließt. Gut, dass ich mich jetzt hinsetzen kann, wir geben uns die Hände und sprechen miteinander. Dieser schlichte Akt entspannt die Situation zwischen uns. Du erzählst mir, dass für dich der öffentliche Raum sowieso eine ganz andere Bedeutung hat, du immer sichtbar bist, dich niemals „unsichtbar“ machen kannst. Wir sitzen unter einem Baum, der uns zuhört.

Akt 9

Du setzt dich neben uns, du bist barfuß und fragst mich, ob wir Englisch miteinander sprechen können. Du riechst nach einem fremden Ort, der ein Geheimnis birgt. Deine Finger verflechten sich mit meinen. Ich frage dich, woher du kommst. Du bist aus Schottland. Ich frage dich, ob du Nan Shepherd kennst, erzähle dir, dass ich gerade ihr Buch „The Living Mountain“ lese. Du sagst „Cairngorms“. Das sind die Berge, die Nan Shepherd ihr ganzes Leben erkundet hat, und so, wie du dieses Wort aussprichst, kann ich die Berge spüren. Dein Blick wird weit. Ich kann den Wind spüren. Du zeigst mir den Duft der Kräuter. Wir sprechen über Dinge, die wir lieben. Du hinterfragst das Wort Liebe, während wir die Straße überqueren und Richtung Burggarten gehen. Dort erzählst du mir, dass du nach einer Krise in deinem Leben, in der du alles verloren hast, vier Tage lang gegangen bist. Mit anderen gegangen bist. Und es war furchtbares Wetter, die Schuhe kaputt, der Wind ein eisiger, schneidender, und du hast dich gefragt, warum dir das passiert, und dem Wind die Schuld gegeben. Und plötzlich hast du verstanden, dass der Wind einfach Wind ist und sich gar nicht um dich kümmert. Wir gehen mit verschränkten Fingern durch den Burggarten, und alles, was du mir noch erzählst, klingt so ungeheuerlich und unglaublich, dass ich mich wieder daran erinnere, dass ich in einer Performance bin, und dich frage, ob das, was du mir erzählst, Teil einer Inszenierung ist. Du verneinst, ich halte dich und deinen Schmerz in meinen Händen, du bist ein Fremder, der mir jetzt gerade ganz nah ist, und es ist mir egal, ob deine Geschichte, die du mir erzählt hast, erfunden oder wahr ist. Ich bin in Sorge um dich und ermutige dich, zu dir und deiner Wahrheit zu stehen. Du warst mein letzter Weggefährte, und ich durfte Zeugin einer geteilten „universellen Dramaturgie“ sein, gewebt durch die Berührung mit sechs verschiedenen Händen und Menschen und das Echo geteilter Schritte und Geschichten.

PS: Im Vorwort zu Nan Shepherds Buch „Der lebende Berg“ schreibt Robert Macfarlane bezugnehmend auf Merleau-Ponty über das Wissen, das in den Händen ist – unser Körper begreift für uns die Welt und ist unser Mittel, überhaupt eine Welt zu haben und diese Welt mit anderen Menschen teilen zu können. „Meine Augen waren in meinen Füßen“, schreibt Nan Shepherd. Danke allen Weggefährt*innen (des Projekts Walking:Holding von Rosana Cade) fürs gemeinsame Gehen, Händehalten und Gehaltensein.

 

Barbara Kraus lebt und arbeitet als darstellende Künstlerin in Wien. Ausbildung an der SNDO in Amsterdam. Sie kreiert Performances und Texte, die sich mit der Frage nach künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten für eine zukunftsfähige, lebenserhaltende Welt beschäftigen. Ihre Life-Art-Performance dream and walk about, bei der sie 2012 zu Fuss den gesamten Alpenbogen von Wien nach Nizza überquerte, realisierte sie in Kooperation mit dem Tanzquartier Wien, wo u. a. auch shared space (2014) zu sehen war. Die Erfahrungen ihrer Reise teilte sie mit ihren virtuellen Weggefährt*innen in Form eines Reisetagebuches. www.barbarakraus.at

 

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