TQW Magazin
Caroline Lillian Schopp über unspelling von Andrea Maurer

he he he he … corruption in the living room

 

he he he he … corruption in the living room

Wozu konkrete poesie in Zeiten von „Fake News“? Was ist von Sprache zu halten bzw. was lässt sich noch mit Sprache machen, wenn sie verkommen und ihrer Bedeutung beraubt zu sein scheint? In unspelling macht sich Andrea Maurer daran, wie sie es ausdrückt, „die Wörter zurückzustehlen und unser eigenes Haus zu bauen“. Das Stück zeigt, wie instabil und behelfsmäßig die aus den gestohlenen Sprachfetzen gebauten Konstruktionen sein werden. Weit entfernt von einem eigenen Haus umreißen die Überbleibsel der Sprache einen umherwandernden Raum. Die Performance beschäftigt sich mit der „Korruption im Wohnzimmer“ (corruption in the living room), um von einer zusammengeschusterten Formulierung aus den ersten Minuten des Stücks Gebrauch zu machen.

unspelling arbeitet sich durch die Titelseite der New York Times vom 27. September 2019. Gemeinsam mit Sara Manente und Lissie Rettenwander zerpflückt Maurer die Schlagzeilen, in denen es nicht zufällig um „starke Männer“ geht: ein Kommentar zu Donald Trump („The rally cry of ‚impeach‘ is terrifying“), ein Leitartikel mit dem Titel „Fixation on Ukraine led to crisis for Trump“, ein Nachruf auf Jacques Chirac unter der Überschrift „French leader championed European identity“, und in der Mitte der Seite ein Bericht über die Komplizenschaft von Recep Tayyip Erdoğan mit Xi Jinpings „incarceration of more than one million Turkic Muslims in China“ („Buying the world’s silence“). In der unteren rechten Ecke steht in einer Anzeige der Turkish Airlines „Hospitality: more than just a word“. Der Schriftzug ist über die einzige auf der Titelseite abgebildete Frau, eine gnädig lächelnde Flugbegleiterin, gedruckt.

Zu Beginn von unspelling liegen Maurer und Manente, beide in eine Decke aus zusammengeklebten Zeitungen gehüllt, auf einer kleinen Bühne. Sie scheinen einander aus Heften vorzulesen, die mit ausgeschnittenen Bildern und Texten von der NYT-Titelseite beklebt sind, von der das Publikum auch ein Exemplar bekommen hat. Ihre Stimmen destillieren fortwährend verblüffende Soundbites in Form von Buchstaben- und Silbenfolgen: „t t t“, „f f f“, „er er er“. Rettenwander sitzt am äußeren Ende einer Bank neben ihnen und zupft an einer Zither. Dieses traditionelle Instrument, das an Synthesizer und Lautsprecher angeschlossen ist, erzeugt alles andere als traditionelle Klänge und füllt den minimalistisch ausgestatteten Raum mit dissonantem Widerhall. Allmählich dringen Maurer und Manente zu Phrasen vor, oder etwas, das wie Phrasen klingt: „the powers of his agenda“, „corruption in the living room“, „a congratulatory call“, „a e o“.

Maurers künstlerische Praxis erinnert an die Tradition der konkreten poesie, mit der sie oft in Verbindung gebracht wird. konkrete poesie ist in der Nachkriegszeit als utopisches Projekt entstanden, das, basierend auf optisch klar verständlichen Zeichen eine universelle Gemeinschaft begründen wollte. In der „Spirale,“ einer Schweizer Zeitschrift für konkrete poesie und kunst, wurde sie als ein Vorhaben der „absoluten abstraktion“ dargestellt, das eine als „neu“ und „konkret“ anzusehende, „nicht abbildende“ Kunst erschaffen wollte.[1] In der fünften Ausgabe der „Spirale“ aus dem Jahr 1955 hielten die Herausgeber Eugen Gomringer und Marcel Wyss fest: „wir wenden uns konsequenter gegen irrationalistische schöpfungen und fördern die gestaltung, die messbare ordnungen von ästetisch-allgemeingültigem [sic] charakter schafft.“[2] In gewisser Weise teilt unspelling diese utopische Vision der „Spirale“, und zwar, indem das Stück Sprache und Worte vor „irrationalem“ oder „fake“ Gebrauch retten will, um einen utopischen Raum zu schaffen, in dem es sich zu leben lohnt.

Während das Schweizer Modell jedoch einen universellen Raum vorsah, der sich durch konkrete poesie eröffnet, sind Maurer und Manente auf lokalisiertere und speziellere Weise mit dem Text verstrickt. Sie wickeln sich in die Zeitungsdecken ein, die sie gerade lesen – als würden sie versuchen, einen Rückzugsort innerhalb der Anrufungen der journalistischen Sprache und der Sprache der Werbung zu bilden, die das tägliche Leben durchsetzen. Sie stehen auf und verwandeln die Textilien in raschelnde Unterschlüpfe, unter denen sie verschwinden. Verzagt schlurfen sie durch den Raum, als würden sie versuchen, sich davonzustehlen, während sie halbherzig Silben, fragmentierte Worte und Phrasen von sich geben. Manente faltet ihre Decke sorgfältig zu einem Quadrat zusammen, während Maurer ihre lautstark zu einem unbändigen Ball zusammenknüllt. Die prekären Zufluchtsorte werden dann für den Rest der Aufführung auf der kleinen Bühne aufgegeben – schäbige, unwirtliche Dinge, die niemandem gehören. Rettenwander fährt mit ihren Fingern über die Zither, wetzt und kratzt an den Saiten.

Bei all dieser Unordnung lässt sich die Performance als Teil einer spezifisch wienerischen Interpretation des Projekts konkrete poesie betrachten. Mitglieder der Wiener Gruppe wie Friedrich Achleitner, Gerhard Rühm und Oswald Wiener veröffentlichten in den 1950er Jahren in der „Spirale“ konkrete poesie. Sie waren allerdings auch an derberen Veranstaltungen beteiligt. Im Mittelpunkt ihrer Arbeiten standen die Performativität der konkreten poesie und die Verflechtung des Körpers mit der Sprache. In ihren sogenannten „literarischen cabarets“ trugen sie neben Chansons und (vorwiegend sehr geschmacklosen) Witzen auch konkrete poesie vor. Das erste „literarische cabaret“, das am 6. Dezember 1958 in den engen Räumen des Künstler*innenclubs Alte Welt stattfand, begann damit, dass die Darstellenden, hinter einem Vorhang versteckt, die österreichische Nationalhymne auf slide-whistles spielten. Oswald Wiener erzählte einmal: „fast alle von uns hatten ein gutes gehör“, aber „nach den ersten paar takten brüllten alle vor lachen, und wir selber mussten zeitweilig aussetzen, uns zu beruhigen.“[3] Humor und Komik – die Sprache und ihre Formen ins Lächerliche ziehen – waren offenbar wesentliche Elemente des utopischen Raums, den die Wiener Gruppe mit konkreter poesie erschaffen wollte. Nicht wenige ihrer Auftritte waren rasend komisch – sowohl für das Publikum als auch für die Darstellenden. Nach dem Publikum und den Performerinnen zu urteilen, war das bei unspelling definitiv nicht der Fall.

Ich frage mich: Warum so ernst? Die Performance scheint ihr Potenzial für Humor ausdrücklich zu verleugnen. Eine Zither ist keine slide-whistle. Und während Rühm einmal die kollaborative Zerlegung von Sprache durch die Wiener Gruppe als Wittgenstein’sches Spiel bezeichnete, bei dem die Beteiligten einander „die sätze wie bälle zu[warfen]“[4], hörte ich Maurer, Manente und Rettenwander bisweilen überrascht dabei zu, wie sie ein willkürliches und eher unzusammenhängendes Galgenmännchen-Spiel zu spielen schienen: Je näher sie der Artikulation kamen, desto toter die Sprache, desto toter das Männchen.

Vielleicht sagt diese ernste Darbietung konkreter poesie etwas über die Zeit aus, mit der sie sich beschäftigt: eine Zeit, die in diesem Fall durch die Titelseite der New York Times International Edition (natürlich auf Englisch) definiert wird. Die drei Frauen versammeln sich auf Rettenwanders Bank und setzen sich hinter Poster dieser Titelseite, von denen sie völlig verdeckt werden. „he“ sagt die eine. „he he“ sagen sie gemeinsam. „he he he and his his he he was and he is he has been of his he he he he.“ In dieser Wiederholung von „he“ möchte man nichts als eine Silbe hören, um die Sprache davor zu retten, einer Welt eingetrichtert zu werden, die immer noch mit dem männlichen Pronomen „he“ abgekürzt werden kann – aber das funktioniert nicht. Möglicherweise will Maurer mit ihrer neuen Sichtweise des utopischen Projekts konkrete poesie zum Ausdruck bringen, dass kein Haus von Grund auf neu gebaut werden kann – es gibt nicht einmal mehr einen Buchstaben, der nicht bereits „korrumpiert“ ist. Jedes „he he he he“ ist knapp davor, schafft es aber nicht, zu dem ausgelassenen Lachen zu werden, das es sonst in Aussicht stellt. Maurer beendet die Aufführung, indem sie so langsam und behäbig wie möglich eine große weiße Leinwand umstößt, die daraufhin auf ihren am Boden liegenden Körper fällt. Handelt es sich dabei um das endgültige Scheitern ihrer Bemühungen, ein Zimmer zum Wohnen zu errichten? Die Bedeutung dieser Geste wurde hier noch nicht durchbuchstabiert.

 

Caroline Lillian Schopp ist Universitätsassistentin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien und unterrichtet dort moderne und zeitgenössische Kunst.

 

[1] Marcel Wyss, Spirale 2, Bern, 1954, unpaginiert.
[2] Eugen Gomringer und Marcel Wyss, Spirale 5, Bern, 1955, unpaginiert.
[3] Oswald Wiener, „das ‚literarische cabaret‘ der wiener gruppe“, in: Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen, Hg. Gerhard Rühm. Reinbek bei Hamburg, 1967, S. 405.
[4] Gerhard Rühm, „vorwort“, in: Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen, Hg. Gerhard Rühm. Reinbek bei Hamburg, 1967, S. 22.

 

 

Alle Beiträge im TQW Magazin

Feedback unter magazin@tqw.at

 
Loading