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Malika Fankha über Knuckles become clouds von Anna Prokopová/ Costas Kekis/ Andrea Gunnlaugsdóttir

„I Sing the Body Electric“*

 

„I Sing the Body Electric“*

Aus dem Englischen übersetzt von Malika Fankha. Originaltext hier.

 

Faustgroße Stücke aus dickem gebrochenem Glas hängen wie Kristalle an Nylonfäden von der Decke, die Luft ist von Nebelschwaden durchzogen. Neonröhren strahlen ein gedämpftes rötliches Licht ab, gerade genug, damit die Zuschauer*innen ihren Weg zu den für sie vorgesehenen Podesten finden, die die Szenerie umrahmen. Die nackten Wände sind partiell mit dickem Molton bedeckt, ein Musiker steht in einer Ecke. Laptop, Mischpult und elektronische Soundgeräte liegen vor ihm ausgebreitet auf dem Pult. Auf dem schwarz ausgelegten Tanzboden sitzen die drei Performer*innen nahe beieinander in gelassener Pose, ihre Augen scheinbar ins Nichts blickend. Bloß dass es kein Nichts gibt: Der Raum ist mit einer Energie aufgeladen, die sich mir noch nicht offenbart hat. Ein Ende? Ein Ende von etwas, das wir alle soeben angekommenen Eindringlinge gerade verpasst haben? Mein Blick wandert erneut zu dem Glasmobile an der Decke. Wofür steht es? Als schmuckes Detail des minimalistischen Bühnenbilds? Oder als Metapher für Knöchel, die zu Wolken geworden sind? „Knuckles“. Ich kaue auf der knochigen, gebirgigen Textur des Wortes herum. Diese fragilen und gleichzeitig rigiden Konstrukte, die dem Körper eine geschmeidige Fortbewegung und Artikulation ermöglichen, hängen hier scheinbar leblos über unseren Köpfen, isoliert, entblößt, und haben bereits die Form und Durchlässigkeit von Wolken angenommen. Unsterblich gemacht haben sie sich, durch ihr Wissen aus einem Leben, das so nicht mehr ist; eine formveränderte Existenz, die ihnen noch immer innewohnt.

Ein unerwarteter Wechsel der Lichtstimmung spült meinen plötzlichen Anflug von Melancholie weg. Die drei Körper formieren sich abrupt – wie gegen ihren eigenen Willen – zu einem symbiotischen Klumpen. Von magnetischer Kraft werden sie absorbiert in einen Sog der Sinnlichkeit. Ihre Gliedmaßen und Köpfe lechzen nach Nähe zu den anderen, beinahe bersten sie vor Verlangen nach deren Haut, Knochen, Fingernägeln, Haaren, dem synthetischen Stoff ihrer halbtransparenten Tüll-Oberteile. Ihr Gesichtsausdruck jedoch bleibt dabei leidenschaftslos, dissoziiert, als wäre der einzige Grund dieser Kontaktaufnahme das Erfahren der Grenzen des eigenen Körpers, eine rein egozentrische Erforschung verfremdeten Andersseins. Mäandernd zwischen einem freundschaftlichen Ringkampf, einer trivialen Ménage-à-trois, einem verwirrten Bienenschwarm, der nicht weiß, in welche Richtung er fliegen soll, höre ich sie nun etwas schwerer atmen. Doch kurz vor dem erwarteten Höhepunkt lösen sich die drei voneinander, ziehen sich in ihre eigene Welt zurück und baden genussvoll im Nachhall dieses Sinnes-Trips. Der Sound kommt aus allen Richtungen und tränkt den Raum in eine fast greifbare Klanglandschaft. Er ist so klar, dass es knistert im Ohr. Wie Wasser, wenn es zu Eis wird.

Die Tänzer*innen nähern sich einander wieder an und singen unisono „Standing on my feet“, gefolgt von „Looking at the tubes“ ein paar Augenblicke später. Gemeinsam treten sie eine weitere Reise an: die der Verspieltheit, der Oberflächlichkeit vielleicht? Das heller gewordene Licht enthüllt nun auch enigmatische Zeichnungen auf Stirn, Fuß- und Handgelenken. Hie und da streuen sie wieder kurze melodische Sprachfetzen in den Raum: „I’m playing a game online“, „Yeah, yeah, yeah“, „It’s so much fun“. Die Gesichter sind noch immer jeglichen Ausdrucks beraubt, ihre Gesten und Beinbewegungen erinnern an das Vokabular von Volkstänzen. Immer wieder stehlen sich diese kleinen Anekdoten von ihren Lippen, tauchen auf und gehen sogleich wieder unter, als ob sich ihre Batterien nach jedem gesprochenen Satz entleerten. An meinem Gaumen ist ein Kitzeln vernehmbar, wenn ich ihnen so zusehe. Insgeheim wünsche ich mir jedoch eine volle Mahlzeit. Wobei – tu ich das wirklich? Oder zelebriere ich das ambigue Gefühl ungestillten Hungers? Ich bin überrascht, wie leicht ich mich vom Charme, der von ihrer desinteressierten Attitüde ausgeht, verführen lasse. Ist das eine ironische Andeutung auf die gleichgültige und selbstverliebte Grundhaltung der Generation Y? Eine unverblümte Darstellung einer Gesellschaft, die sich aus ihrer existenziellen Verankerung zu lösen scheint?

Für die folgende Sequenz formiert sich das Trio um eine Glühbirne unter einem aufgehängten Mikrofon. Das Licht reagiert auf die Frequenz ihrer Stimmen, wie Luft auf Feuer. Sieht so vielleicht eines Tages eine romantische Nacht mit Lagerfeuer in der Matrix aus? Im Universum, wo Knöchel zu Wolken werden jedenfalls, endet nichts im Exzess oder in einer überbordenden Orgie. Das Trio löst sich auf, wieder zieht sich jede*r für sich zurück und betritt den eigenen magischen Mikrokosmos, in den sie uns ganz vage Einblicke gewähren: Sie lassen ihre Körper auf Schwachstrom erzittern, gestalten ihre anatomischen Landkarten um und geben sich ganz neuen Verzweigungen hin, die jedoch verschlüsselt bleiben. Sie folgen einer uns unbekannten Routine, einem Zyklus der Endlosigkeit und werden gesteuert von einem übergeordneten System mit seinen eigenen Regeln bis zu dem Moment, in dem die Bewegung, der Sound und das Licht langsam ausblenden. Das Ende tritt nicht überraschend ein, es ist ein unaufgeregtes, unprätentiöses Ende, das sich anfühlt wie das Ende einer Straße, die in einen Pfad führt und weiter in eine Wiese, oder den Ozean, oder ins Weltall, in eine horizontlose Unendlichkeit, an der wir – das Publikum – nicht teilhaben werden. Ich will mit ihnen mit. Ich klatsche und stehe widerwillig auf. Können wir noch einmal zurück zum Anfang? Ich möchte zurückblättern auf die erste Seite. Um berührt und destabilisiert zu werden, um high zu sein. Knuckles become clouds ist voll von amüsanten und erschreckenden Deklarationen über (post)humane Zustände, voll dezenter Elegien über unser selbstsüchtiges Verhalten, unsere Wegwerfkultur, deren Bedeutung in dem Moment verfliegt, in dem sie sich zu manifestieren scheint. Ein prismatisches Portrait unserer emotionalen Zustände während dieser etwas merkwürdigen Tage des unlängst angebrochenen 21. Jahrhunderts.

 

* Gedicht von Walt Whitman, 1855.

 

Malika Fankha studierte Schauspiel in Zürich und Zeitgenössischen Tanz in Salzburg (SEAD) und an der NYU (Tisch School of Performing Arts). Sie arbeitet als Tänzerin, Choreografin, Sound Poet und DJ. In ihren Arbeiten thematisiert sie die utopischen und dystopischen Charakterzüge von Popkultur, posthumanen Strömungen und Alltäglichem unter Verwendung verschiedenster Genres und Narrative, wobei sie alles im textuellen, visuellen und emotiven Bereich der Poesie zu verorten sucht. www.malikafankha.com

 

 

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