TQW Magazin
Marino Formenti über George tremble von Samuel Feldhandler

I WISH YOU NOTHING (Oder: Das Buch der Toten)

 

I WISH YOU NOTHING (Oder: Das Buch der Toten)

The sounds are not sounds but shadows.
They are obviously sounds; that’s why they are shadows.
Every something is an echo of nothing.
(John Cage)

Man hat mich gebeten, etwas über Samuel Feldhandlers Georges tremble zu schreiben, weil ich Musiker bin. Aber: Ist Musik das, was „klingt“? (I don’t give a fuck about sound.) Ist Musik das, was man „rhythmisch“ strukturiert? (I don’t give a fuck about musical structures.)

Wenn Samuel ein hochsensibler Musiker ist, dann nicht, weil er musikalische Strukturen in seinem Werk verwendet oder sich an John Cage inspiriert. Es gibt z. B. ziemlich unerotische Performances über „Sex“.

Vielleicht ist er ein Musiker, weil es in seinem Stück viel Anlass gibt, über Musik nachzudenken.

KLANG/BEWEGUNG UND GESTE

Elizabeth und Yari und Mani tanzen dasselbe, over and over again, es wird immer bedeutungsloser.

Eine mögliche Definition von Musik (zumindest von weißer Musik) wäre: Klang gegen Geste.

Man ist ständig mit der Frage konfrontiert, inwiefern die „Bedeutung“ (signifié) von Gesten in Erscheinung treten oder verschwinden soll. Es ist ein Drahtseilakt zwischen Pest und Cholera: Wenn ich zu viel Geste, z. B. „Seufzer“, spiele, verkommt die Musik zu einer banal-lautmalerischen Angelegenheit; wenn die Aussage „Seufzer“ aber völlig getilgt ist, könnte die Musik zu einer abstrakten, amorphen Masse werden (oder aber zur beeindruckenden Darstellung des Nichts, des Todes: wie vielleicht in Samuels Stück?).

Die (weiße) Musik ist erst mal mit lauten Gesten gespickt, die etwas „bedeuten“. Ein melodisches Intervall nach unten wird der „Seufzer“ genannt, er kommt ständig in Liebesarien vor, von Bach bis Popmusik; eine exclamatio ist ein melodischer Sprung nach oben, bringt Schwung in den Laden wie ein Ruf; usw. Diese Gesten waren oft auch weitgehend anerkannt, man organisierte sie immer wieder in streng kodifizierten Katalogen (ähnlich wie im Tanz, glaube ich).

An Gesten, die wir im Blut zu haben scheinen, kommt man also nicht vorbei: Wenn die „Geste“ völlig ignoriert wird, hat es einfach Folgen. Sicher ist, dass eine von Menschen performte, doch möglichst nichts erzählende (Klang-)Bewegung dem „sinnlosen“ Tanz des Laubs im Wind nicht ähneln kann, weil man die Bedeutungslosigkeit der Nicht-mehr-Geste als Verlust empfindet, mit Folgen natürlich.

Selbst eine ästhetische Entscheidung ist eine Geste: Eine Musik, die nichts erzählt, erzählt ja, dass Musik nichts erzählt.

Jetzt tanzen Yari und Elizabeth wirklich ganz gleich.

Was den Kampf zwischen Erzählung und Abstraktion anbelangt, gibt es Positionen, die mit dem Finger mehr in die eine oder die andere Richtung weisen; und mir war erst mal die eine – die „Abstraktion“ – generell eher suspekter als die andere. Als ich heranwuchs, war die Abstraktion nämlich sehr en vogue; die musikalischen „Eltern“, mit denen ich auch studierte, waren für mich erst mal nichts anderes als irgendwie puritanisch objektivierende Väter, die es zu töten galt. Ich bin den Verdacht immer noch nicht ganz losgeworden, dass hinter der Suche nach Abstraktion oft nur prüde Angst steckt. Ich dachte oft, da sind wieder die verklemmten weißen Spießbürger am Werk.

Der Verdacht wird eigentlich bestätigt, wenn man auf die Geschichte blickt. In der Zeit von Reformation und Gegenreformation (um 1550) kann man zwei ähnliche ästhetische Richtungen beobachten: die Ich-Erzählung und das Kontemplative. Der Wunsch nach einer „kontemplativen“ Musik wurde direkt per päpstliches Dekret verordnet: nicht nur ein gutes Zeichen.

Doch ich lernte selbst schnell, dass ich nur mit „Ausdruck“ nicht weit komme; und machte mit „kontemplativen“ Motetten die vielleicht wichtigsten Erfahrungen.

Jetzt ist eine elektrische Gitarre dazugekommen; sie spielt aber wieder nur verlorene, ihrer Aussagen beinah gänzlich beraubte Fetzen.

 

THE SCORE

Samuel hat akribisch eine choreografische Partitur geschrieben. Samuel ist übrigens so weiß wie ich.

Für uns europäische Männer (deren Hauptzweck immer schon Besitzen war, also auch Aufbewahren, Erben und Vererben, dazu Herumkommandieren) war die Entwicklung einer immer genauer werdenden Schrift notwendig: Mit ihr ließen sich dann nicht nur Sklavenkaufverträge, sondern auch wunderschöne Partituren für ewig festhalten.

Das System wurde immer raffinierter: Wenn eine Partitur von Bach (1700) 100 Informationen aufweist, weist eine Partitur von Stockhausen 1.000 auf. Dabei etablierte sich allmählich die Arbeitsteilung zwischen Komponist*in und Interpret*in, wurde schließlich eine kaum zu überwindende Kluft. Die*Der Ausführende muss heute nur noch die Befehl gewordenen 1.000 Informationen der Partitur ausführen. Die Entwicklung des musikalischen Aufschreibens ging also Hand in Hand mit der Entwicklung von immer toxischer werdenden Machtstrukturen.

Das ist im Tanzbereich schon anders als in der Musik. Samuels Performer*innen sind, wie viele andere auch, selbst Choreograf*innen, eigenständig denkende Menschen; Samuel, soweit ich spüren konnte, begegnet ihnen absolut auf Augenhöhe.

Und Elizabeth tanzt und tanzt.
Jetzt ist sie eine Waschmaschine, eine Parkplatzschranke.

Bedeutet das, dass Partiturschreiben per se eine toxische Angelegenheit ist? Natürlich nicht. Aber ich habe Samuel schon gefragt, ob er es nicht komisch findet, von drei denkenden Individuen das Ausführen jener von ihm ganz genau erdachten gleichen Gesten abzuverlangen. Doch ich selbst war dankbar, als ich die informationsschwangeren Stockhausen-Partituren spielen durfte: Die Arbeit kostete Blut und Schweiß, doch am Ende nahm ich eine ganz edle Art von Freiheit wahr. Also fühlt sich Elizabeth durch Samuels kleinen Step jetzt schätzungsweise auch beschenkt.

Jetzt füllt Mani die Bewegung ganz anders aus als Elizabeth. Es ist seine Bewegung, sie gehört nur ihm.

Außerdem stellt sich bald heraus, dass Samuel gleichzeitig auch das wichtig ist, was sich seinem Willen entzieht. Musik läuft parallel dazu; Bilder hängen da, man weiß nicht so recht, warum; zwei Männer streicheln sich inmitten des sonst zunehmenden Abstrahierens.

Wir waren ja noch bei Stockhausens Befehlen. Hier geht John Cage raus, kauft sich einen Radiergummi und sitzt dann vor dem völlig ausradierten, leeren Blatt. Das übervolle Blatt von Stockhausen und das ganz leere von Cage sind aber auch nur scheinbar konträr: Stockhausen hatte die 1.000 Befehle durch mathematische Prozesse hergestellt und uns damit von der expressiven „Geste“ ähnlich befreit wie John Cage, der das Blatt leer gelassen hatte.

Doch selbst bei den extremsten Versuchen, durch schwarze (Stockhausen) oder weiße (Cage) Sättigung der Partitur die Geste aus der Musik zu eliminieren, kommt sie durch das Fenster wieder rein. Dann hört man auf einmal den einzelnen Klang einer Glocke, und dann ist Lautbild im Nu wieder Vorstellung, und Glocke ist Tod oder Glaube.

EIN BUCH DER TOTEN
(So jung und schon so tot.)

Zwei Hände in die Luft geworfen.  

Das sind ja doch von Anfang an fast keine Gesten mehr, beinah sinnentleert. Nicht nur sinngemäß, sondern auch physisch eher nur noch angedeutet: fast nicht mehr entzifferbare Überbleibsel.

Man könnte sich einen Teil der Performance vorstellen, den niemand zu sehen bekam und der vielleicht Jahrhunderte dauerte, bevor der Vorhang aufging; in dem die Gesten noch am Leben waren.

Zwei hüpfende Schritte, da glaubt man doch, eine Quelle zu erkennen, Stepdance? Aber auch kaum noch lesbar.

Fröhlichkeit, Frechheit flimmern durch den Kopf: wie beim äußerst kurzen Glockenklang Stockhausens und bei der damit verbundenen „Todes-Assoziation“,

doch die Tänzer*innen sind wieder woanders.

Was eine Logik zwischen diesen Überbleibseln angeht, denkt man, dass diese einem vielfältigen und vielleicht inkohärenten großen gemeinsamen Gedächtnis entstammen könnten: wie in dem Traum, in dem die Darmstädter Ferienkurse und meine Zunge und die Tante Franca mit Salami koexistierten. Oder wie in der Mülltonne. Sowieso sieht im Müll alles immer ähnlicher aus. Oder vielleicht so wie auf YouTube. Wenn ich auf YouTube „classical music“ eingebe, stoße ich zuerst auf Seiten von Dingen, die nichts mit alldem zu tun haben, was mir „classical music“ immer schon „erzählte“: leere Klavierklänge, die sich fürs Uni-Studium eignen; Bearbeitungen Chopins für eine Shampoo-Werbung; usw.

Durch Wiederholung und Vervielfältigung wird eine Musik, die ursprünglich etwas sagen wollte, ihres Sinns unwiderruflich entleert.

Irgendwann stehen wir vor einer Musik und wissen überhaupt nicht mehr, was sie sagen wollte.

Und Yari tanzt und tanzt und tanzt und tanzt und tanzt. Jetzt ist er weg.

Selbst die strukturell-musikalischen Formen waren ursprünglich expressive, narrative „Gesten“: Hier kommen sie mir auch wie nicht mehr zu „verstehende“ Überbleibsel vor.

Eine Sonatenform etwa ist eine Schablone, an der sich zopftragende, von Legitimität und Bedeutung dieser Form wesentlich überzeugtere Männer vor Jahrhunderten rieben; aber wissen wir noch, warum?

In der herkömmlichen Verwendung dient die Wiederholung dazu, die expressive Kraft des Wiederholten zu verstärken. Man denke nur an Popsongs, bei denen die Wiederholungen des Refrains immer stärker „einfahren“.

Hier bewirkt die Wiederholung das Gegenteil: Die Bewegung verliert durch die entleerenden Wiederholungen schließlich jede Expressivität, falls sie je eine gehabt hat.
Call it Zunichtetanzen.

Zum Schluss bleibt nur noch nothing.

Einen vergleichbaren Prozess beobachtete ich auch zwischen Probe und Performance: Durch die Arbeit eigneten sich die Tänzer*innen peu à peu die Bewegungen an, schlüpften in sie und verschwanden allmählich in ihnen, starben nach und nach.

Schlussendlich sah ich in Samuel – und da tue ich ihm vielleicht unrecht mit einem großen Kompliment, das an ein Missverständnis grenzen könnte – einen abgrundtiefen Pessimisten. Vielleicht projizierte ich aber nur meinen eigenen abgrundtiefen Pessimismus auf ihn. (Wenn ein Stück die Metapher von YouTube sein soll, kann das irgendwie auch ganz tragisch gemeint sein. Ich bin aber 57, und Samuel nicht.) 

Jetzt ist Elizabeth weg.  

Am Ende von Georges tremble stand ich irgendwie wie vor dem Ägyptischen Totenbuch.

Man blickt auf ein beinah aufgelöstes Palimpsest und findet nur noch Löcher und Leere, höchstens Fetzen von Fetzen, die man kaum mehr sehen kann. Irgendwann, es dauert nicht mehr lange, werden selbst diese Fetzen weg sein.

Hier und da taucht doch so etwas wie eine „Botschaft“ auf. Zwei Tänzer*innen streicheln sich – eine Musik, die sich allmählich hätte auslöschen sollen, wurde zeitlich so umgedreht, dass es fast zu einer „gestischen“ Steigerung kommt.

Aber vielleicht sind diese wenigen Entscheidungen auch nur: Überbleibsel.

Jetzt ist Mani auch weg.

Und ich wünsche mir auf einmal, und ernsthaft, eines Tages mit Samuel Musik zu machen! Bevor ich wirklich weg bin and dance with the worms.

Mir wünsche ich das; ihm wünsche ich absolut nothing:

Wir spielten ein Spiel, Philip Guston und ich. Wir waren die letzten Künstler.
Das nothing war für uns weniger ein philosophisches Spiel als ein entscheidender Ausgangs- und Zielpunkt.
Es liegt auf der Hand, dass man nicht mit nothing beginnt, weniger offensichtlich ist es jedoch, dass man nach Jahren der Arbeit bei viel weniger ankommen sollte.
Wir werden mit der Tatsache konfrontiert – oder besser: diese Tatsache kristallisiert sich heraus –, dass wir sehr wenig hervorzubringen und extrem wenig zu sagen haben.
(Morton Feldman)

 

Marino Formenti, von der L.A. Times als „Glenn Gould for the 21st Century“ gepriesen, hat sich u.a. durch Performances einen Namen gemacht, die das Konzertformat hinterfragen. Zu seinen wichtigsten Projekten zählen Kurtag’s Ghosts und Liszt Inspections. In der Langzeitperformance NOWHERE (u. a.Berliner Festspiele) spielte und lebte er mehrere Wochen ununterbrochen in einem öffentlich zugänglichen Raum. One to One (u. a. Art Basel) ist eine zweistündige musikalische Begegnung mit jeweils einer/einem Zuhörer_in. Kollaborationen mit Ann Liv Young (brut Wien), Tim Etchells, Florian Pumhösl, Rodrigo García u. v. m.

 

 

 

 

 

 

 
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