TQW Magazin
Cornelia Offergeld im Gespräch mit Linda Samaraweerová zu Durst

Im Garten der dunklen Affekte

 

Im Garten der dunklen Affekte

Das Stück Durst – eine performative Oper in sechs Sätzen von Linda Samaraweerová / Robert Jíša hätte am 27. November 2020 uraufgeführt werden sollen und musste wegen der Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie auf 2021 verschoben werden. Die Dramaturgin Cornelia Offergeld hat sich mit Linda Samaraweerová über die Produktion ausgetauscht.

 

Tief in einem dunklen Wald leben unsere Emotionen in einem Garten als mächtige Dämonen, die uns beherrschen. Nachdem sich die Choreografin Linda Samaraweerová in ihrem letzten Stück Mystery of Happiness mit dem Mythos und dem Paradox der „Glücksverheißung“ in der westlichen Kultur beschäftigt hat, dringt sie nun in diesen geheimen Garten ein und wendet sich mit ihrer aktuellen Choreografie unserem Unvermögen zu, uns existenziellen Emotionen und deren Schattenseiten zu stellen.

In Durst wird der fatale Umgang einer Gesellschaft mit den dunklen Seiten ihrer Affekte wie mit den damit verbundenen kognitiven Kontrollzwängen als Mechanismus unserer Zeit erlebbar. Und gleichzeitig ist das Stück ein künstlerisch transdisziplinär angelegtes Experiment, das Linda Samaraweerová in enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten Robert Jíša, der Schriftstellerin Elke Laznia und den Künstler*innen Violetta Ehnsperg, Karl Karner und Laura Samaraweerová als performative Oper für sechs Sänger*innen, zwei Performer*innen und eine künstlerische Szenografie entwickelt hat.

In Elke Laznias Libretto wachsen eindringliche Sprachbilder heran, mit denen sich die Schriftstellerin an die Unfassbarkeit von Gefühlen herantastet und zu den Grenzen des Sprachraums vordringt. Elke Laznia erforscht den Rhythmus der Worte, während Robert Jíša, der seit vielen Jahren die Auswirkungen von Schallfrequenzen auf den menschlichen Körper, das Gehirn und das Nervensystem untersucht, die sechs Themenfragmente zu einem Zyklus vertont, dessen musikalische Rhetorik die barocke Affektenlehre in die Gegenwart transportiert.

Linda Samaraweerovás Choreografien sind grenzgängerische Kampfansagen an kollektive Zwänge und Normen. Mit Durst rührt die Choreografin an ein kulturelles Tabu, das negativen Emotionen gerade durch ihre Verleugnung erlaubt, sich unbemerkt über unseren Verstand herzumachen, um dort schließlich allemal zu den Hausherren zu werden.

Cornelia Offergeld: Deine Performances entwickelst du aus einer analytischen Beschäftigung mit der Gesellschaft der Gegenwart heraus. Welche Überlegungen waren für deine aktuelle Choreografie maßgeblich?

Linda Samaraweerová: Tiefe Zweifel an einer Ökonomie, in der immer intensivere Stimulation notwendig ist, um der allgemeinen Glücksvorstellung zu entsprechen, führen mich zu einem Wunsch nach einem choreografischen Gegenmodell, in dem ich mich auf das Motiv des Heilens gesellschaftlicher Prozesse und des Neuordnens von aus dem Gleichgewicht geratenen Kräften beziehe. Grundsätzlich erscheint es mir notwendig, die kulturelle und politische Außenwelt und die menschliche Innenwelt in einem neuen Miteinander zu denken.

In Durst geht es um die „dunklen“ Emotionen oder Affekte, die wir negieren und denen wir paradoxerweise dadurch erlauben, uns zu beherrschen …

Ich orientiere mich an der tibetischen Bön-Lehre , die auf negative Emotionen einen etwas anderen Blickwinkel als die westliche Psychoanalyse wirft. Sechs primäre Emotionen rufen jeweils einen eigenen geistigen Zustand hervor. Die Tibeter*innen nutzen dazu bildliche Entsprechungen: So macht uns der Hass zu Höllenbewohner*innen, die Gier hält die Menschen in der Mentalität hungriger Geister gefangen, die Unwissenheit ist den Tieren vorbehalten, die Eifersucht den Menschen, der Neid entspricht den Halbgottheiten, die lustvolle Zerstreuung den Gottheiten. Es sind poetische, aber auch sinnvolle Bilder, die deutlich machen, wie uns negative Emotionen daran hindern, höhere Bewusstseinsformen zu erreichen. Mir ermöglicht diese tibetische Lehre, die einen Teil meiner Sozialisierung ausmacht, einen wertvollen Perspektivenwechsel.

Hinzu kommt im aktuellen Stück die Auseinandersetzung mit Schlaf, Traum und Dunkelheit. Auch hier finde ich die gesellschaftliche Dimension interessant: wie diese Qualitäten in unserer Gesellschaft ausgelebt werden, welchen Wert in einer von Stress und Versagensängsten geprägten Leistungsgesellschaft Schlaf, Dunkelheit und das Träumen haben.

Wie transformierst du diese Überlegungen in deine Choreografie?

Mein Interesse ist es, Choreografien zu entwickeln, die direkt auf die körperlichen Erfahrungen des Publikums abzielen und es in einen immersiven Zustand versetzen, in dem die Sinne anders aktiviert werden. Die neue Performance baut auf den Elementen, Erfahrungen und Qualitäten auf, die das Stück Mystery of Happiness hervorgebracht hat. Während jedoch in diesem Stück der visuelle Raum bewusst verlassen wurde, sehe ich im neuen Projekt eine starke Bildebene als ein wieder erwünschtes Narrativ. Auch die*der Performer*in tritt als Akteur*in wieder in den Vordergrund. Die Performance soll Möglichkeitsräume öffnen, die sich jenen Denk- und Verhaltensmustern widersetzen, die uns die alles durchdringende Logik der Monetarisierung einbrennt.

Es sind Faktoren wie Langsamkeit, Dunkelheit, Reduktion, aber auch Gemeinschaft, Intimität und Musik, an welchen ich gemeinsam mit mehreren Künstler*innen gearbeitet habe. Die Komponenten der Verlangsamung und der Reduktion sind von großer Bedeutung. Sie sind notwendig, um auf eine natürliche Weise eine tiefe bewusstseinsverändernde Transformation hervorzurufen. Diese Veränderung hilft uns, die Limitierung des Denkens zu transformieren und unsere Existenz aus einer anderen Perspektive heraus zu betrachten, die uns das gewöhnliche Denken nicht ermöglichen kann. In diesem Zustand wird das sogenannte parasympathische Nervensystem aktiviert, und es kommt zu einer „mental-emotionalen Integration“.

In deiner Arbeit tauchst du immer wieder tief in philosophische und soziologische Überlegungen ein und analysierst gesellschaftliche Fehl- und Bruchstellen. Was hat dich in der Genese von Durst beschäftigt?

Der Philosoph Byung-Chul Han schreibt in seinem Buch „Müdigkeitsgesellschaft“, dass wir unsere Fähigkeit zur kontemplativen Versenkung verloren haben. Auf einer strukturellen Ebene möchte ich diesem Verlust mit dem radikalen Denken Donna J. Haraways begegnen. Haraway fordert in ihrem Buch „Unruhig bleiben“ nicht nur zur Widerständigkeit auf, sie plädiert gleichermaßen dafür, sich an einer Art Heilung zu versuchen: „Es ist unsere Aufgabe, Unruhe zu stiften, zu wirkungsvollen Reaktionen auf zerstörerische Ereignisse aufzurütteln, aber auch die aufgewühlten Gewässer zu beruhigen, ruhige Orte wieder aufzubauen.“

Zentrale Denkanstöße gibt mir die klassische indische Philosophie. Am östlichen Zugang fasziniert mich, dass Theorie und Praxis immer eng miteinander verbunden sind. Die alten überlieferten psychophysischen Praktiken machen die schriftlichen philosophischen Texte direkt erlebbar und verständlich. Ich benutze diese Techniken als tiefe Inspirationsquellen. Einerseits helfen sie mir, in den kreativen Fluss zu kommen, andererseits eröffnen sie Fragestellungen und neue Perspektiven auf die zeitgenössischen gesellschaftlichen Prozesse.

Im aktuellen Projekt beschäftige ich mich mit der tibetischen Affektenlehre und der Traumpraxis. Der Lama Tenzin Wangyal Rinpoche beschreibt in seinem Buch „Übung der Nacht“ Techniken, die uns von einem alltäglichen Schlaf über luzides Träumen in einen höheren Bewusstseinszustand führen. Auf diese Praxis nehmen die Schriftstellerin Elke Laznia im Libretto, der Komponist Robert Jíša in der Vertonung und ich in der Choreografie Bezug.

Und ich bin sehr froh, dass ich die Möglichkeit habe, diese Gedankenwelt mit der großartigen Performerin Ondine Cloez aus Belgien und dem wunderbaren tschechischen Kammerorchester Musica Florea in die Praxis umzusetzen. Als Choreografin habe ich das erste Mal so intensiv mit Musiker*innen und Sänger*innen zusammengearbeitet, und ich betrachte es als ein großes Glück, den jungen, talentierten Sänger*innen, die praktisch aus der ganzen Welt stammen, in diesem Projekt begegnen zu dürfen. Erst durch die Sensibilität, die Willenskraft und die Interpretationsfähigkeit von André Angenendt, Liia Krasilovskaia, Jean-Max Lattemann, Maria Mysachenko, Denise Seyhan und Johanna Zachhuber beginnt die Theorie wie unsere Versuche und Gedanken zu leben.

Damit sprichst du schon meine nächste Frage an: In deinen Stücken arbeitest du transdisziplinär, vor allem auch prozessorientiert mit bildenden Künstler*innen zusammen und versuchst mit ihnen, den künstlerischen Bedeutungs- und Spielraum zu erweitern. Bei deiner aktuellen Arbeit kommt die Musik hinzu. Welche Bedeutung hat sie für das Stück?

Mit dem bildenden Künstler Karl Karner verbinden mich bereits etliche gemeinsame Projekte. Zusammen mit Violetta Ehnsperg hat er Kostüme entworfen, die wie Fantasiewelten ein Eigenleben entwickeln. Auf weichen, handgefärbten Stoffen sind an allen nur denkbaren Stellen Karl Karners Zeichnungen platziert, die eine innere, oft verstörende Welt nach außen kehren. Damit korrespondiert die unglaublich feinfühlige Formensprache von Violetta Ehnsperg in der Szenografie – ein dichter Wald aus hängenden Ketten, denen alle möglichen Objekte anhaften, die an unsere Identität gekoppelt sind.

Meine Schwester Laura Samaraweerová schichtet in einer Videoinstallation surreale Traum- und Albtraumwelten übereinander und zielt damit auf unsere Fähigkeit ab, subtiler wahrnehmen zu können. Es sind ebenso wunderschöne wie beängstigende Parallelwelten, die übereinanderliegen, sich vermischen, sich verdecken und gleichzeitig entblößen. Auch mit der Fotografin Judith Stehlik, die die Entwicklung der Oper mit ihrer Kamera begleitet, verbinden mich künstlerisch bereits einige Projekte, die etwa beim steirischen herbst oder beim Donaufestival gezeigt wurden. Mit ihrem präzisen und gleichzeitig poetischen Blick auf das Essenzielle fängt sie den zweijährigen Entwicklungsprozess in seinen einzelnen Phasen auf sehr eindringliche Art und Weise ein.

Von essenzieller Bedeutung ist in diesem Projekt die Verbindung von Sprache, Musik, Gesang, Tanz, Performance und künstlerischer Szenografie. Zentraler Energieträger ist die Musik in Form einer modernen Oper. Gemeinsam mit dem Komponisten Robert Jíša erforsche ich seit 2014 die Interaktion zwischen musikalischen Frequenzen und spezifischen Körperstellen. Jíša verbindet diese Forschungen in der Komposition mit der barocken Affektenlehre. Und gleichzeitig vertont er Schritt für Schritt das Libretto von Elke Laznia.

Die musikalische Komposition beginnt äußerst einfach. Sie basiert ausschließlich auf Schlaginstrumenten und Text, wobei hier vor allem die Körper der Performer*innen und Sänger*innen als perkussive Instrumente dienen. Wir bewegen uns strukturell in Stammestänzen, in den Rufen des Texts, in einer Art „Haka“ der Maori, im Tanz des Zorns, der Hoffnungslosigkeit, der Energie und der Geradlinigkeit. Das ist der Anfang und das Ende unserer Reise. Das Finale ist rein musikalisch konzipiert und gipfelt in einer Art symbolischem Gesang. In diesem finalen Höhepunkt und in der Transformation von Dimensionen geht es darum, einen Zustand zu erreichen, in dem wir zwischen Wörtern, Sprachen und kulturellen Konstrukten nicht mehr unterscheiden.

In deinen früheren Arbeiten war Sprache vor allem auf struktureller Ebene ein Schwerpunkt. Im letzten Stück trat Sprache erstmals lyrisch in den Vordergrund. Für Durst hat nun die Schriftstellerin Elke Laznia ein Libretto von eindringlich suggestiver Bildkraft geschrieben, die das Stück maßgeblich prägt.

Das ist richtig, Sprache hat mich allerdings schon immer auch in ihrem lyrischen und assoziativen Potenzial fasziniert. Bisher habe ich in diesem Bereich meistens mit Bruno Batinic gearbeitet, der sehr starke Sprachwelten geschaffen hat, die mich und das Publikum jedes Mal aufs Neue zutiefst berühren. Für die Oper habe ich eine neue Zusammenarbeit gewagt – mit Elke Laznia –, und sie erwies sich für uns als eine äußerst inspirierende. Elke Laznia wird in der literarischen Welt zu Recht als „Absolutistin des Gefühls“ bezeichnet, und die Zusammenarbeit mit ihr war mir eine große Ehre. Ihr Libretto ist das zentrale Nervensystem, das über die Bilder hinaus einen eigenen Rhythmus erzeugt, von dem alles ausgeht und zu dem alles hinführt. Sie vermag mit Sprache eine Fragilität freizulegen, bis hin zu einer Dimension, die sich außerhalb der Welt, jenseits von Sprachlichkeit, befindet. Angst, Verlust, Abschied, Trennung wie auch Gier, Neid, Unersättlichkeit, Tod und Wiedergeburt, Heimatverlust, der Verlust der eigenen Sprache werden zu alles durchdringenden Sprachbildern verwoben, die gleichzeitig von ungeheurer Leichtigkeit sind. Insofern sind sie der Musik an sich sehr nah.

 

Cornelia Offergeld ist Kuratorin und Kunstwissenschaftlerin. Nach verschiedenen Engagements z. B. an der Freien Akademie Moskau, kuratierte sie Projekte wie „Zeit und Raum sind gestern gestorben“, eine neofuturistische Oper oder entwickelte – im Sinne des „Unsichtbaren Theaters“ von Augusto Boal – Formate wie 7 Days“, Performances im öffentlichen Raum Wien. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit setzt sie sich mit den Manifestationen kollektiven Erinnerns und mit der Sprachlichkeit von Kunst auseinander.

 
Loading