TQW Magazin
Liese Schmidt über Rakete Part 3: Magdalena Forster / Milena Georgieva und Suutoo

Interferenzen oder alles muss durch die Leber

 

Interferenzen oder alles muss durch die Leber

Ein*e Performer*in, ein Mikrofon, eine Gitarre, ein Verstärker. Sowohl bei Bile von Magdalena Forster und Milena Georgieva als auch bei Rituals of Transformation (Starfire) von Suutoo sammelt sich das Publikum im Kreis um diese ersten, schon anwesenden Körper. Beide Performances charakterisiert das Thema des Versammelns. Während Suutoo uns in den dunklen Ecken zurücksinken lässt und sich in der Mitte technisch durchchoreografierte Landschaften aus Licht und Nebel abwechseln, werden wir von Magdalena Forster und den Klängen von Milena Georgieva im fast durchgängig grellweißen Licht durch Blicke und Gesten aufgenommen und abgestoßen.

Die eigene Präsenz drängt sich bei Bile in den Vordergrund unserer Wahrnehmung und wird auch von Magdalena Forster herausgefordert. Immer wieder nimmt diese Blickkontakt auf, während eines langsamen und auf den eigenen Körper konzentrierten Einstudierens von vertraut erscheinenden Gesten. Die Arme betrachtend und berührend lehnt sich Magdalena Forster langsam zurück. Die Arme zeigen (wie bei einem coolen Rockstar-Move auf der Bühne) auf Einzelne im Publikum. Der Blick folgt den Armen und fixiert für einen Moment die Einzelnen, bis er sich wieder vom Publikum ab- und dem eigenen Körper zuwendet. In der Langsamkeit entsteht Erotik, die abseits unserer Blicke und trotzdem bewusst in ihnen geschieht und sich durch die Mischung aus Selbsterkundung und Nachahmung bestimmten „gazes“ widersetzt. Im explizitesten dieser Momente ergreift Magdalena Forster das Mikrofon, spricht und murmelt hinein, schiebt und drückt sich über den Boden. Über Mikrofon und Schuh gebeugt adressiert sie die Leber, die als Organ und antiker Mythos das Ausgangsmotiv für Bile ist.

Die Leber ist das zentrale Stoffwechselorgan des Säugetierkörpers, sie nimmt auf und trennt das Giftige vom Nahrhaften. Im Altgriechischen hat das Wort für Leber „hḗpar oder „hḗdar“ möglicherweise Wurzeln in „hēdonḗ“ – Lust – und galt als Sitz der Seele, der Emotionen und der Intelligenz. Die Leber ist auch eine Form von „Versammlung“, weshalb im Abendprogramm von einer „geheimnisvollen Figur […] zwischen Mythos, Wirt*in und Liebhaber*in“ zu lesen ist, die Magdalena Forster verkörpert. Beim Verkörpern geht es dann auch wortwörtlich um das Körper- und Bewegungwerden, wenn Forster in den Wellen von Mustern, die sie durchläuft, weniger zur Protagonistin wird als zu diesem Wesen, in dem Narrative sich sammeln und gleichzeitig erzählt werden. Sie ist eine unpersönliche und gleichzeitig intime Figur, durch die Gesten, Emotionen und Sätze wiedergegeben und verändert werden. Meine Wahrnehmung von Magdalena Forster changiert zwischen Person und Körper, und sie scheint eine Art kollektive Gesamtheit von Selbst- und Fremdwahrnehmung zu performen.

Wenn im altgriechischen Verständnis der Leber sowohl Emotionen als auch das Rationale in der Mitte des Körpers selbst angesiedelt sind, dann wird Performance von (Gender-)Identitäten und Erotik eine körperliche Verarbeitung von äußeren Normen und Zuschreibungen, von Fürsorge und von Gewalt. „I really don’t know … I hear hushed conversations … Some faces go sheet white … If you know, I’d like to know too …“, spricht und singt Magdalena Forster und erstickt den Sprechgesang in ihren Armen, in den Vorhängen am Rand des Raums, die sie verknotet. Das Gerede der anderen, das Sehnen nach Verständnis, erreicht mich ebenfalls gefiltert, und ihm wird in der nachahmenden Wiederholung Bedeutung gegeben und genommen.

Die*Der Wirt*in, die*der Gastgeber*in, die*der versorgt, Fremdes aufnimmt und ernährt, hält dieses Gerede von außen und damit auch den eigenen Körper und die eigene Identität als etwas Kollektives und Kombiniertes zusammen. Sie ist ein*e Liebhaber*in, aber im Haraway’schen Sinne der mitunter schwierigen und konfliktreichen Liebe als „care“, die aus den konstanten Verschiebungen von Gleichheiten und Unterschieden der Gemeinschaft entsteht. Das Aufgehen in der Andersheit ist dann eine körperliche und damit auch erotische Erfahrung. Magdalena Forster provoziert uns, flirtet mit uns, zwingt uns, dabei zu bleiben, mitzufühlen und loszulassen. Ihr Blick wird zu einem nicht personalisierten Blick aus der Mitte des Körpers, in dem sich alle Körper spiegeln. Das helle Licht im Raum scheint dann einmal mehr den liebevollen Zwang der „hḗpar“ als Wirtin auszudrücken: Alles muss durch die Leber hindurch.

Die Erotik des Loslassens und Aufgehens im anderen durchzieht auch die zweite Performance: Rituals of Transformation (Starfire) von Suutoo. Nebel erfüllt das zweite Studio und scheint durch die bodennahen Scheinwerfer einen Teppich zu bilden. Diesen durchschneidet Suutoo beim Auftritt in mehrlagigen Kleidungsfragmenten; ein langer Rock, ein glitzerndes Party-Oberteil und eine schwer wirkende kurze Patchworkjacke. Langsam schreitet Suutoo auf ein Licht zu, das, wie unter Wasser, in einzelne Strahlen bricht. Suutoo tastet sich in dieses Licht hinein und begegnet schließlich der von einem Spot beleuchteten Gitarre, die auf dem Boden liegt. Mit geduldiger Fürsorge beginnt Suutoo sich der Gitarre mit Händen, Mund und Zunge erotisch zu nähern und sie zu ertasten.

Begleitet wird der Auftritt von einem statischen Klangteppich, in dem dunkle Töne ein ruhiges Fundament bilden. Die physische Begegnung mit den Saiten der Gitarre übersetzt sich in verzögerte, durch das Rauschen des Verstärkers auftauchende Klänge.

Nach dieser Intro werden wir durch wechselnde Landschaften aus Licht, Schatten, Nebel und Klang geführt. Soundfragmente tauchen aus dem Noise-Teppich auf und verschwinden wieder, erinnern einmal an aus der Ferne kommende Schnipsel von Filmmusik und dann wieder an Clubmusik. Scheinwerfer rotieren abwechselnd an der Decke und am Boden. Licht und Ton sind in ihrer technischen Präzision genauso präsente Protagonisten wie Suutoo selbst und geben den Ablauf der Szenen unerbittlich vor.

Suutoo taumelt durch diese atmosphärischen Räume in radikaler Selbstbestimmtheit durch Fremdbestimmtheit, wie wir sie schon in Bile gesehen haben; schwankt zwischen Suchen und Finden hin und her, zwischen Selbstvergessenheit und Verlorenheit; zwischen dem Entdecken, das Einsamkeit impliziert, und dem Entdecken, das Intimität voraussetzt.

Besonders deutlich wird das in einer Szene, in der die Musik und das Licht die Studiomitte in eine Clubtanzfläche verwandeln. Suutoo tanzt allein und ekstatisch in die Lichtkegel hinein und hinaus, scheint zu stolpern und verloren zu gehen und sich dann wieder in Bewegungen zu finden, in denen das Licht Suutoo nicht mehr als allein auf der Tanzfläche exponiert, sondern einen Möglichkeitsraum öffnet. Ich erinnere mich an diese Szene, als seien verschiedene Momente in einem Bild vereint. Die Linearität der Abläufe löst sich auf, verschiedene Zeit-/Raumpunkte werden beleuchtet und frieren schließlich ein, wenn die Lichtsäulen im Raster stehen bleiben und Suutoo von einem Lichtkegel zum nächsten hastet, darin badet, und das Licht aufnehmen und trinken zu wollen scheint.

Die Szene lässt mich an einen Moment in Bile zurückdenken: Unter den Publikumstribünen findet Magdalena Forster Sneaker, mit denen sie ihre Absatzschuhe ersetzt. Das Licht wird kalt und gelb, während die Soundscape von Milena Georgieva zu rhythmischer elektronischer Musik wechselt. Auch hier erkenne ich Clubtanz in Forsters Bewegungen. Im Kontrast dazu sind die Stille danach, in die sie hineinsingt und -spricht, und das helle weiße Licht umso einprägsamer.

Während die mythische Figur in Bile aus der Mitte des „Versammelten“ erscheint, verfolge ich bei Suutoo das Werden und undoing von Identität auf einer noch subtileren Ebene der Unterscheidungen und Überlagerungen. Immer wieder tauchen in der Musik und im Licht Interferenzen auf, die als Bild die Theorie der identitätsstiftenden Streuung[2] zitieren könnten. Suutoo verlässt den Raum, den Rock zurücklassend, und kommt (selbst zum Applaus) nicht zurück. Das Scheinwerferlicht führt die Choreografie fort: Es findet in der Mitte zusammen und bildet ein blendendes stroboskopartiges Interferenzmuster, das für einige Minuten in der Mitte des Raums steht.

Ich denke an das Bild der Streuung, weil es erlaubt, Identität als einen nie abgeschlossenen Prozess des Unterscheidens zu denken. Nicht meine grundsätzliche Andersheit oder Gleichheit in Bezug auf andere und anderes bestimmt mich dann, sondern erst der Prozess der Trennung oder der Angleichung. Dieser Prozess ist einer, an dem alles, was sich unterscheidet, gleichermaßen beteiligt ist und der mit jeder Begegnung neu geschieht, ein neues Wellenmuster entstehen lässt. So ist Identität grundsätzlich fluid und macht das Verlorengehen Suutoos als einen „emanzipatorischen Irrweg“ möglich, wie der Begleittext beschreibt: das Suchen als Finden, das Dissoziieren (auch im Club) als Aufgehen des Selbst im Fremden und das Nachvollziehen von den verschiedenen Wellenmustern als Emanzipation von Definitionen, die „Erkundung von Lärm als grenzenlosem Ort der Alterität“. „All Suutoo wants to be is free.“[3] Herausfordernd und liebevoll werde ich auf die grundsätzlich queere Zusammengesetztheit von Identität und die Möglichkeiten, sich in Mythen und Ritualen (für die auch der Club ein Ort ist) konstruktiv zu dekonstruieren, zu transformieren und loszulassen, aufmerksam gemacht.

 

[1] Aus dem Abendprogramm zu Bile.
[2] Vgl. beispielsweise Karen Barads Begriff der Diffraktion in Agentieller Realismus, Berlin 2012.
[3] Aus Suutoos Biografie im Abendprogramm zu Rituals of Transformation (Starfire).

 

Liese Schmidt arbeitet als Künstlerin und im Kulturbereich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Sparten, derzeit lebt und studiert sie in Wien. Einem grundsätzlichen Interesse an Kommunikation und Fehlkommunikation folgend beschäftigt sie sich mit Mythen, Fiktionen und Narrativen, die unser Verständnis von Alltäglichem definieren. Darüber hinaus arbeitet Liese Schmidt als Kuratorin und in der Produktion von nichtkommerziellen Ausstellungsräumen und Festivals, im Film, in der Videodokumentation sowie als Sounddesignerin.

 

Die Texte zum Rakete-Festival 2023 wurden von Studierenden des MA Critical Studies in Kooperation mit der Akademie der Bildenden Künste Wien (Moira Hille) verfasst.

 

 
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