TQW Magazin
Frederike Sperling über (Im)mobility Salon #3 von Alix Eynaudi

Andere Zeitlichkeiten erfinden

 

Andere Zeitlichkeiten erfinden

An sechs Tagen voll extremer Schwüle, Donnergrollen und sintflutartigen Regenfällen veranstaltet Alix Eynaudi in Wien gemeinsam mit unabhängigen Verleger*innen, Lyriker*innen, Schriftsteller*innen, Journalist*innen, Redakteur*innen und Künstler*innen den dritten Teil ihrer fortlaufenden Serie (Im)mobility Salon.

Die Teilnehmer*innen hetzen zum Volkskundemuseum mit Taschen und Fahrradkörben im Arm – wie stumme Zeug*innen der vielen Verstrickungen des Lebens, als Erinnerung an die täglich anfallenden Erledigungen. Die verschwitzten Gesichter und der schwere Atem sind Spuren der Belastung und des rasenden Tempos, die der Alltag fordert, und so landen die Ankommenden in einem sorgfältig vorbereiteten Raum, in dem sich Erfrischungen, eine Schallplattensammlung und eine Bibliothek befinden. Schuhe werden ausgezogen, Teetassen gefüllt und Taschen in Ecken gestellt, wie ein Beweis für gegenseitiges Vertrauen. Die Anwesenden versinken in Sofas oder kuscheln sich auf einen großen Teppich, dessen Flecken Geschichten aus vergangenen Tagen erzählen. Allmählich scheinen sich die Gedanken und Bewegungen zu entschleunigen und langsameren Rhythmen Platz zu machen.

In ihrem Eröffnungsworkshop, Restshop, lädt Eynaudi die Teilnehmer*innen zur sinnlich-intellektuellen Beschäftigung in intimen Vierergruppen ein. Abwechselnd liest jede Person aus einem Buch, das sie*er aus der Bibliothek des Salons ausgesucht hat, schreibt eine kreative Reaktion auf den Text oder legt sich hin, während eine vierte Person sie einvernehmlich an Schultern, Armen oder Beinen berührt. Auf diese Weise werden Passagen aus Jonathan Burrows’ Writing Dance (2022), Vanessa Machado de Oliveiras Hospicing Modernity (2021) und Minna Salamis Sensuous Knowledge (2023) durch Stimme und Berührung, Schreiben und Klang lebendig gemacht: Wörter füllen den Raum und wirbeln zwischen den Körpern durch die Luft. Wie eine Partitur aus chaotischen und synchronisierten Abläufen, die gelegentlich von Sekunden völliger Stille unterbrochen werden.

In einem anderen Workshop schlägt Andrea Ancira García etwas Ähnliches vor: eine Leseübung in Zweiergruppen zu Daniel B. Chavez’ und Dani D’Amilias Radical Tenderness Manifesto (2015). Ancira García ist Mitbegründerin von tumbalacasa ediciones, einem Kollektiv, das sich der Veröffentlichung, Übersetzung und Archivierung von Praktiken des Verlernens und der Widerständigkeit verschrieben hat. Während die Teilnehmer*innen einander das Manifest laut vorlesen, vermischen sich ihre Stimmen, wechseln sich ab und überschneiden sich mit Sätzen wie: „Radikale Zärtlichkeit muss kritisch und zugleich liebevoll sein […].“ Mit einer Methodik, die ebenso radikal zart erscheint, betrachtet tumbalacasa seine Projekte als Gefährten und versteht sowohl Bücher als auch Übersetzungen als Ergebnisse gemeinschaftlicher Bedeutungsproduktion. Dabei reflektiert das Kollektiv die kolonialen Hinterlassenschaften des Übersetzens kritisch und setzt um, was sein Name zu Ehren der Schwarzen Feministin Audre Lorde postuliert: tumba la casa – das [Herren-]Haus niederreißen.

Im Verlauf der sechs Tage reproduziert sich die Außenwelt im Einklang mit der unerbittlichen 24/7-Hektik der Geschäftswelt. Im (Im)mobility Salon hingegen löst sich die Zeit in einen Zustand der Stagnation auf. Wie ein Mikroklima erfindet der Salon seine eigenen zeitlichen Gegebenheiten – in insgesamt zwölf Manifestationen, die verschiedene Rhythmen und Frequenzen parallel bestehen und schließlich Körper und Geist zusammen ruhen und wachsen lassen.

 

Frederike Sperling ist künstlerische Leiterin des Kunstraum Niederoesterreich in Wien. In ihrer kuratorischen Praxis widmet sie sich vor allem zeitbasierten Medien mit besonderem Fokus auf Themen wie Körperlichkeit und Relationalität aus intersektionalen Perspektiven.

 

 

 

 
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