TQW Magazin
Sara Abbasi über SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP von Lucy Wilke, Paweł Duduś mit Kim Twiddle

It’s really simple

 

It’s really simple

Als ich am Freitagabend in das Schneetreiben hinausging, um die Vorstellung Scores that shaped our friendship von und mit Lucy Wilke, Paweł Duduś und Kim Twiddle zu besuchen, sagte ich mir: „Du musst jetzt eine halbe Stunde durch die Kälte stapfen, dann wirst du mit einer besonderen Wärme belohnt. Einer Wärme, die schon in den ersten Minuten in dich hineinkriechen, sich in deinem Bauch langsam ausbreiten und eine ganze Weile dort bleiben wird.“ Wieso ich das wusste?

Ich hatte das Glück, diesen Abend bereits gesehen zu haben: im Sommer in Italien, beim Santarcangelo Festival, während einer fast unerträglichen Hitzeperiode. Als Dramaturgin im Festivalmodus siehst du drei bis fünf Stücke am Tag. Ich mag diesen Zustand, weil er die Kritikerin in dir zum Schweigen bringt und dich durchlässig und weich macht. Du beurteilst weniger; die Eindrücke gehen direkt in den Körper, ohne dass du Zeit hast, sie dem professionellen Für und Wider zu unterziehen. Es entscheidet sich in gewisser Weise von selbst, was dir in Erinnerung bleibt und was nicht. Was dich berührt, berührt dich gleich, und was dich kaltlässt, lässt du liegen. Das klingt irgendwie brutal und ist es wahrscheinlich auch.

Von den vielen Stücken, die ich auf diesem Festival gesehen habe, war Scores that shaped our friendship eins von denen, die mir in besonderer Erinnerung geblieben sind. Es hat mich ganz unmittelbar berührt und in eine Form der Intimität hineingelassen, die zu keinem Zeitpunkt unangenehm, konstruiert oder aufdringlich war, sondern einfach warm und schön. Mir ist klar, dass „einfach warm und schön“ nicht besonders dramaturgisch klingt, aber so harmlos, wie diese Adjektive auf den ersten Blick erscheinen, so aufgeladen sind sie an diesem klug komponierten Abend. Und weil die Welt, die nicht besonders warm und schön ist, als Kontrastfolie zu keinem Zeitpunkt ausgeblendet wird, wird jede Geste und jeder Blick zu einer radikalen Strategie, um der Hässlichkeit etwas Schönes entgegenzusetzen, der Gleichgültigkeit mit Empathie und der Grausamkeit mit Zärtlichkeit zu begegnen. In sieben „Kapiteln“ untersuchen die Choreograf*innen Lucy Wilke und Paweł Duduś in einer – ich bitte dieses Wort zu entschuldigen – kuscheligen Kissenlandschaft das zwischenmenschliche Zusammensein in der Live-Musik von Kim Twiddle. Dass Lucy und Paweł die Sprache der Körper besonders gut sprechen, erfahren wir nicht nur zu Beginn, wir erleben es auch durch unsere eigene physische Anwesenheit in den nächsten sechzig Minuten.

Die Namen der Kapitel verraten bereits gewisse Suchrichtungen. Sie fassen einige der Themen und geben einen Eindruck vom besonderen Humor dieses Abends und seiner feinen Ironie:

 

  1. My body
  2. Survival of the fittest
  3. I recall
  4. Stretching time, testing your patience
  5. A tribute to Tinder
  6. It’s really simple
  7. The house over there

 

Lucy Wilke ist Performerin, Regisseurin, Autorin und, gemeinsam mit ihrer Mutter, Musikerin in der wunderbaren Band blind & lame. Sie wurde mit spinaler Muskelatrophie geboren und benutzt zur Fortbewegung einen Rollstuhl, den sie jedoch im ersten Teil des Abends nicht benötigt, da sie und ihr Partner Paweł Duduś, der sich als queer-non binary-migrant-feminist-ally bezeichnet, auf einer der Matten auf dem Bühnenboden sitzen. Lucys Körper wird durch Pawels Körper bewegt, und trotzdem scheinen fast alle Bewegungen von Lucy auszugehen, von der die meisten Bewegungen initiiert werden – durch Blicke, Worte, Laute.

In der körperlichen Vertrautheit zwischen Lucy und Paweł, in der unaggressiven Art, in der sie miteinander kommunizieren, in der spielerischen Leichtigkeit, mit der sie Verabredungen umsetzen und auf den anderen Körper eingehen, ihn berühren, auf ihn hören, entfaltet sich eine ganz eigene Sprache. Eine Sprache jenseits heteronormativer Körperzurichtungs- und Machtmechanismen. In dieser Art des körperlichen Miteinanders liegt eine große Freiheit, eine bewusste Entscheidung, anders zu sein, als wir alle es wurden mit unseren zur Ware gewordenen Körper, die sich optimieren und kontrollieren lassen, die aber längst nicht mehr dazu dienen, eine Welt, die ohnehin niemand mehr versteht, ertasten und erspüren zu wollen.

Später, als Lucy im Rollstuhl sitzt und Pawel fast unhörbar Anweisungen wie „das Ellbogending“, „die Hand auf den Joystick“ gibt, klingt das nie wie ein Kommando, was gerade in der deutschen Sprache selten gelingt. Wenn Paweł Lucys Beine und Arme bewegt, wirkt das nie bevormundend, und wenn Paweł seinen Kopf nach hinten legt, muss er sich vorher nicht absichern, denn Lucy ist da, um ihn zu halten.

In dieser Körperhaltung – seinen Kopf auf Lucy Schoß – fragt er sie:

– „Lucy, was machst du gerade?“

– „Ich halte dich und spüre deine Wärme. Und was machst du?“

– „Ich entspanne mich in dich hinein.“

 

Sara Abbasi arbeitet als Dramaturgin für Performing Arts an der Ruhrtriennale.

 
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