TQW Magazin
Samuel Feldhandler über die Kooperation von Musikverein Wien und TQW zu Beethovens Medizinlöffel

Latent Dance – vier Sätze an einem Abend in drei Teilen

 

Latent Dance – vier Sätze an einem Abend in drei Teilen

i.

Vor ein paar Monaten wurde ich von Christina Gillinger im Namen des Tanzquartier Wien eingeladen, für das TQW Magazin einen Text über eine Veranstaltung zu schreiben, die in Kooperation mit dem Musikverein Wien kuratiert wurde und am 12. März 2023 stattfand.

Diese Veranstaltung existiert offenbar in einem Spektrum mehrerer Kuratierungen. Erstens als kokuratiertes Projekt und erste (von vielen?) Kooperation(en) der Institutionen Musikverein und Tanzquartier, zweitens im Rahmen des Musikverein-Festivals Beethovens Medizinlöffel, drittens im Rahmen des allgemeinen Performanceprogramms des TQW und viertens im Rahmen des laufenden Theorie- und Forschungsprogramms des TQW.

Die Veranstaltung bestand aus drei verschiedenen Teilen. Ein Vortrag von Graham St John unter dem Titel Meta-Liminal in den TQW Studios, die Tanz- und Musikperformance All Around von Mette Ingvartsen und Will Guthrie in der Halle G und ein Konzert des Orchestre de Paris im Großen Musikvereinssaal unter der Leitung von Klaus Mäkelä, bei dem Im Entschwinden von Mark Andre uraufgeführt und die zweite Sinfonie von Gustav Mahler gespielt wurde.

 

ii.

Eine poetische Beziehung zwischen Zyklen, Pfeilen und Punkten. Das Zyklische des Loops, des Rhythmus, des Takts, der Wendung, der Besessenheit. Das Pfeil-ische der Komposition, des Crescendos, des Anfang/Mitte/Endes. Und schließlich das Punkt-ische des Programmhefts, des Sitzes, des Schreis, der Hörner (in F) in der Ferne. Aber auch die versteckten Zyklen, die versteckten Pfeile, die versteckten Punkte und auch das Verstecken von Zyklen, Pfeilen, Punkten. Mit anderen Worten: das Choreografische, die Feinabstimmung, die Kontrolle von und die Versorgung mit Reizen für Augen und Ohren. Welche Pfeile soll ich sehen? Welche Zyklen werden klar und deutlich dargestellt, und nach welchen Zyklen muss ich suchen? Welche Punkte können wir als selbstverständlich betrachten? Können wir (überhaupt jemals) einen Punkt als selbstverständlich betrachten?

 

iii.a 

– […] Ich mag diesen Sound, zum Beispiel, das weiß ich noch. Immer Resonanzen, Resonanzen. Ich liebe obsessive Musik. Und als ich mir My Favorite Things von John Coltrane anhörte, war es das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Stück hörte, das fast eine ganze Vinylseite lang dauerte und bei dem es um Obsession ging. […] Als ich dann auf meinem Niveau komponierte, machte ich Musiken mit obsessiven Tendenzen […].

– Weil sie dich weiterbringen?

– Zunächst war das bestimmt so. Wer mit dem Rhythmus kommunizieren kann […], lernt, einen besseren Zugang zur Musik zu finden. Und dann bekommt man* wieder Lust, Musik zu machen, mit Melodien, mit Dingen. Das passiert nach und nach, glaube ich. Coltrane hat das durchgemacht, John Coltrane hat das durchgemacht.[1]

 

iii.b

/ machte ich Musiken mit obsessiven Tendenzen
kommt von
/ j’ai fait des musiques à tendances obsessionnelles
im französischen. also nehmen wir
/ les tendances
und machen daraus (warum, wird noch ersichtlich werden)
/ la tendance
woraus sich auch
/ l’attendant se
oder
/ l’à temps dans ceux
oder
/ la tendant ce
oder schließlich
/ latent danse
machen lässt. und wenn wir noch einen buchstaben tauschen, wird dadurch die sprache gewechselt
/ latent dance

 

iv.

Der Abend des 12. März (der zu diesem Zeitpunkt noch so jung war, dass ich besser Nachmittag sagen sollte) begann für mich damit, dass Graham St John über Stimmung („vibe“) und Zwischenräume („liminal spaces“) sprach. Nachdem ich mir die obsessiven Tendenzen (im Sinne von Christian Vander) von Mette Ingvartsen und Will Guthrie angeschaut und Mark Andres sich kontinuierlich ausbreitende Orchestervisionen angehört hatte, endete mein Abend mit Gustav Mahlers zweiter Sinfonie, bei der im fünften und letzten Satz ein kleines Fernorchester vorkommt. Fernorchester steht für ein Orchester in der Ferne, also eine Gruppe von Musiker*innen, die irgendwo vom Publikum entfernt spielen. Im gegebenen Fall bedeutete das am Gang bzw. für uns im Publikum (dessen sozio-klangliche Erfahrungen darauf konzentriert waren, was zu diesem Zeitpunkt im Großen Musikvereinssaal vor sich ging) außerhalb des Raums. Für das optimale akustische Erlebnis – und nicht zu vergessen, der Teufel steckt im Detail – mussten einige Türen geöffnet, für die unterschiedlichen Längen der wenigen Passagen, die von besagtem Fernorchester gespielt wurden, einen Spalt geöffnet und wieder geschlossen werden, um alle Geräusche der Außenwelt zu verbannen und die akustische Integrität und Konzentration im Großen Musikvereinssaal zu gewährleisten. Ich war in der glücklichen Lage, eine dieser Türen direkt im Blick zu haben, und ich muss sagen, dass die Sorgfalt, mit der sie geöffnet, offen gehalten und wieder geschlossen wurde, beinah der Sorgfalt gleichkam, mit der die Musiker*innen den klanglichen Gedanken und Sehnsüchten von Mark Andre und Gustav Mahler Materialität verliehen, ebenso wie der Sorgfalt, mit der sich Mette Ingvartsen und Will Guthrie ihrem Duett widmeten, und der Sorgfalt, mit der Graham St John seine Recherchen zum Vibe in der elektronischen Tanzmusikkultur teilte.

Gäbe es einen besseren Abschluss eines so vielfältigen und kontrastreichen Abends, als mit dem behutsamen Lebendigwerden dessen Rahmen – mitten in Gustav Mahlers epischem und unerschöpflichem Überschreiten klanglicher Grenzen? Mit dem behutsamen Lebendigwerden „der Unterstützung, die unverzichtbar ist, oder allgemeiner, [des] Außen, das an dem Vorgang mitwirkt“, um einen Begriff von Fred Moten zu verwenden und ihn in einen (etwas) anderen Kontext zu setzen.[2]

Und mit „behutsam zum Leben erwachen“ meine ich die Aktivierung des heutigen Abends in einem langsamen, langsamen Tanz, avec des mélodies, avec des choses, mit Melodien, mit Dingen.

 

[1] Christian Vander, Schlagzeuger, Sänger, Komponist, Gründer und treibende Kraft hinter der franko-kobaïschen Progressive-Rock-Band Magma, im Gespräch mit einer*einem anonymen Interviewer*in irgendwann in den 1990er-Jahren. Zitat im März 2023 von Samuel Feldhandler transkribiert und mithilfe von KI (grob) [ins Englische] übersetzt. [Anschließend von Caroline Wellner ins Deutsche.]
[2] Einen anderen Kontext als den des letzten Kapitels seines Buches In the Break.

 

Samuel Feldhandler schreibt Tanz und lebt in Wien. Aufgewachsen in einer Musiker*innenfamilie, war er von musikalischen Formen umgeben, die seine Sensibilität und Aufmerksamkeit prägten, lange bevor er begann, sich in den Tanz zu vertiefen. Heute forscht er leidenschaftlich nach Möglichkeiten, diese vertrauten Formen in einem choreografischen Kontext umzusetzen. Samuel kreiert seit 2012 Tanzarbeiten. samuelfeldhandler.com

 

 
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