TQW Magazin
Petra Poelzl über ONíRICA von Marta Navaridas

Leaning into the simple pleasures of existing

Leaning into the simple pleasures of existing

In ONÍRICA überführt Marta Navaridas die Praxis des Zeichnens mit drei Tänzer*innen in ein choreografisches Setting. Die dieswöchige Wien-Premiere im Tanzquartier Wien musste aufgrund der COVID-19-Pandemie auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Petra Poelzl hat das Stück bereits in Salzburg gesehen und ihre Gedanken für das TQW Magazin verschriftlicht.

We are in this together. No matter where we are positioned, we are responsible to and for each other. I think that’s what being terrestrial is all about.
Donna Haraway[1]

Der Terminus „onírica“ dient als Ausgangspunkt für die gleichnamige Produktion der Choreografin Marta Navaridas. „Onírica“ umschreibt einen vorübergehenden Zustand, ein momentanes Dasein, eine mögliche Tagesverfassung, in der das Bewusstsein sich zwischen Außenwahrnehmung und innerem Selbst einpendelt. Ein Zustand, der sich jeglicher Logik entzieht, in dem man sich ganz nahesteht – und doch weit von sich entfernt ist.

You could even say to have spent your day in an onírica kind of way.
Marta Navaridas[2]

Um ein sich auftuendes „Onírica-Universum“ zu erschaffen, experimentierten Marta Navaridas und die drei Performer*innen Lau Lukkarila, Xianghui Zeng und Veza Fernández gemeinsam mit dem Harfenisten Eduardo Raon und dem Komponisten Manuel Riegler mit der Bewegungspraxis des „Authentic Movement“. Eine Praxis, die sich nicht nur im Tanz, sondern auch in verschiedenen Körpertherapien wiederfindet und der stets ein intensiver Dialog mit der persönlichen Geschichte inhärent ist. Das Ausüben der Praxis vermag eine breite Palette von Emotionsräumen an die Oberfläche zu spülen, die sich zwischen leichtfüßiger, kindlicher Gelassenheit und intimen, tief greifenden Emotionen einordnen lassen.

In the dark and silence, journeys begin, with feelings, images, sounds, memories, thoughts and sensations. Gates to the unconscious open as movers descend.
Janet Adler[3]

Diese breit gefächerten Landschaften durchziehen auch ONíRICA und lassen sich bereits beim Betreten des in einem Industriegebäude am Stadtrand von Salzburg gelegenen 2.500 Quadratmeter großen Ausstellungsraumes der Galerie Ropac erahnen. In der Mitte des Ausstellungsraumes ein weißer quaderförmiger Hohlkörper. Entlang der beiden Längsseiten jeweils 15 Stühle für das Publikum. Hinter jeder Stuhlreihe einer der beiden Musiker. Im Hohlraum des Quaders die drei Performer*innen. Ein zunächst laboratorisch-steril anmutendes Szenario, eine Expedition in das Universum einer unbekannten Spezies, einer eingeweihten Community.

Bereits beim Betreten des Raumes sind die Performer*innen und die Musiker gleichermaßen versunken und präsent in ihrem „onírica“. Ihre Blicke streifen durch den Raum, über die Gesichter des Publikums, entlocken tief Verwurzeltes, ohne dabei etwas entgegnen oder erzählen zu wollen. Vielmehr laden sie den/die Betrachter*in ein, „onírica“ in Erwägung zu ziehen.

Ihre Bewegungen sind achtsam, bedacht und verwehren sich den Spuren jeglicher Schule. Sie schreiben sich in Form von blauen Linien, wie die ausschlagende Nadel eines Seismografen, in ihre unmittelbare Umgebung ein. Striche und Linien ziehen sich über die weißen Wände des Quaders, die Kleidung und die Haut der Performer*innen, überlagern und durchkreuzen sich, brechen plötzlich ab. Ein performativer Akt, der eine Reminiszenz an Marta Navaridas Kindheit darstellt, in welcher sie sich über das Zeichnen von Linien mit blauen Stiften auf die Reise in entlegene Fantasiewelten begab.

Notwendig ist heute nicht die Entschleunigung, sondern eine Zeitrevolution, die eine ganz andere Zeit beginnen lässt.
Byung-Chul Han[4]

In ONíRICA scheinen die blauen Linien wie Zeugnisse einer anderen Welt, einer anderen Zeit, derer man sich nun vor den Augen des Publikums entledigt. Layer um Layer. Dabei wird lautstark gegen (hetero-)normative Verhaltensrichtlinien appelliert und so der Versuch gewagt, vielgestaltige Imaginationen zuzulassen. Ein Raum, der flexibel und nicht starr, voller Lust und ohne Angst ist, in dem „togetherness“ über allem steht und zelebriert wird.

Our radical imagination is a tool for decolonization, for reclaiming our right to shape our lived reality.
adrienne maree brown[5]

Der Klang der Harfe und die elektronischen Sounds „trippen“ durch den Raum, verschwimmen ineinander und vermischen sich mit dem Quietschen der Stifte, dem spontanen Gesang und dem erschöpften Atem der Performer*innen. ONíRICA möchte keine Geschichte erzählen, ONíRICA möchte erfahren werden. ONíRICA ist ein Laboratorium, eine Gemeinschaft, die eine ganz andere Zeit, eine andere Form des Seins beginnen lassen möchte. Nachdem das Publikum nach sechzig Minuten aus dem Raum gebeten wird, bleibt das Szenario mitsamt seinen Akteur*innen im Galerieraum zurück. ONíRICA schwingt und vibriert im eigenen Körper und in der eigenen Gedankenwelt weiter.

A lot of pleasure activism is also leaning into the simple pleasures of existing, right here, right now. I think communities of care are the future for our species. And I just hope that we don’t have to go down the most apocalyptic world to get us there.
adrienne maree brown[6]

 

[1] Donna Haraway in einer Diskussion mit Bruno Latour und Peter Weibel im Rahmen von Virtual Opening and Streaming Festival: Critical Zones – Observatories for Earthly Politics am ZKM (Gesprochener Text, 24.05.2020). https://zkm.de/en/event/2020/05/virtual-opening-and-streaming-festival-critical-zones (Letzter Besuch: 17.06.2020)
[2] Marta Navaridas im Online Interview mit Petra Poelzl (18.05.2020)
[3] Janet Adler im Trailer von Still Looking (1988). www.youtube.com/watch?v=fcZGUTy5wYk (Letzter Besuch: 17.06.2020)
[4] Byung Chul-Han Alles eilt. Wie wir die Zeit erleben. In: www.zeit.de/2013/25/zeit-logik-effizienz-kapital-gabe/seite-2 (Letzter Besuch: 17.06.2020)
[5] adrienne maree brown, Pleasure Activism (2019), AK Pr Distribution (Chico, Edinburgh), S. 10.
[6] adrienne maree brown in an interview with Catherine Lizette Gonzalez in: Pleasure Activism‘, Adrienne Maree Brown Dares Us to Get In Touch With Our Needs (2019) www.colorlines.com/articles/pleasure-activism-adrienne-maree-brown-dares-us-get-touch-our-needs (Letzter Besuch: 17.06.2020)

 

Petra Poelzl ist künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin der Neuen Galerie und des Kunstpavillons der Tiroler Künstler*innenschaft, Innsbruck. Zuvor war Poelzl als freie Dramaturgin, Kuratorin und Reseracherin zwischen Berlin, Graz und China tätig. Ihre Texte erschienen in Ausstellungskatalogen, Magazinen sowie Fachjournalen.

 
Loading