TQW Magazin
Daniela Finzi über 41 von Anne Juren

Lessons in Desire

 

Lessons in Desire

Wer in diesen vorweihnachtlichen Tagen die Halle G im Tanzquartier Wien aufsucht, kommt nicht umhin, die großflächige Beleuchtung an der Fassade der ehemaligen Hofstallungen zu registrieren: E N J O Y – dieser Aufforderung müssen auch die Besucher*innen von Anne Juren gewahr werden, bevor sie deren jüngster Auseinandersetzung mit dem Körper und seinen Ausdehnungen beiwohnen können. Dass dieses „Genieße!“ so prominent an einer stark frequentierten Stelle in Wien platziert ist, vermag nicht weiter zu überraschen – schließlich haben wir es hierbei mit einem in unserer Gesellschaft allgegenwärtigen Befehl zu tun. Dessen Bann, so der Kulturkritiker Slavoj Žižek, führe just dazu, dass unser Genießen mehr denn je gestört ist bzw. von seiner (gefährlichen) Substanz befreit werden muss.[1] Womöglich sei die Psychoanalyse „der einzige Diskurs, innerhalb dessen es einem erlaubt sei, nicht zu genießen“[2], meint Žižek in einem kurzweiligen Buch, in dem er in das Denken und die Grundbegriffe des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan einführt. Dass auch der Choreografin, Tänzerin und Performerin Juren, die für ihre theorienahe Denk- und Herangehensweise an den Tanz bekannt ist, diese Grundbegriffe vertraut sind, kann vorausgesetzt werden. Daraus folgt jedoch nicht, dass Jurens Arbeiten lediglich den mit der psychoanalytischen Theorie Vertrauten zugänglich bleiben würden – vielmehr ist damit ein bestimmter Ort und eine bestimmte Position benannt, von dem oder der aus ihre Beschäftigung mit dem Ich und dem/der/den Anderen und ihr Bestreben, den gesellschaftlichen Zugriffen auf den Körper und dessen Begehren auf fantasievolle und authentische Weise Widerstand zu leisten, erfolgt.

Tatsächlich zieht sich die Frage, welches Potenzial an Widerständigkeit und -spenstigkeit dem Körper imminent ist und wie dieses zum Ausdruck gebracht werden kann, durch Anne Jurens gesamtes choreografisches Schaffen. Auch Jurens Stück 41 präsentiert sich als vielschichtige Unternehmung, den imaginierten (gesellschaftlichen) Außenblick auf den Körper mit den Erfahrungen und Erkundungen des eigenen (unheimlichen) Leibs zu konfrontieren. Wo bin ich in meinem Knie, in meinem Ohrläppchen, in meiner Pobacke? Nichts an diesem eigenen Körper ist selbstverständlich, nichts entspricht einer unumwundenen Ganzheit – und doch strebt alles nach dieser Vollständigkeit. Ein Streben, das – so auch eine zentrale Einsicht Lacans – notwendigerweise mit Blendung, Täuschung, Illusion einhergeht.

„Desire for symmetry“, so hören wir Anne Juren ihre erste „lesson“ in 41 ankündigen. Die Stimme, die möglicherweise durch ihren leichten Akzent noch mehr (als) Stimme ist, füllt den gesamten Bühnenraum. Auf einem Podest im Zuschauerraum sehen wir eine andere junge Frau, Linda Samaraweerová, die mit diversen Requisiten hantiert. Jede der Bewegungen des, so heißt es im Programmzettel, „performing model“ macht Materialität sichtbar. Ihre ruhigen Bewegungen lassen uns alltägliche Handgriffe anders erscheinen. Wenn Schuhe zugeschnürt werden können, so können sie auch aus-geschnürt werden, keine Frage. Später wird Samaraweerová sich vollständig entkleidet und damit auch die naturgegebene Symmetrie des menschlichen Körpers dargelegt haben. An diesem Abend steht indes ein anderes Körperbild zur Disposition. Juren nimmt den Körper nicht als wie auch immer natürlich gegeben, sondern begreift ihn als prozessuales Ergebnis einer „orthopädischen“ Konstruktion, wie Lacan es nennen würde. Und so taucht Linda Samaraweerová Gipsbinden in warmes Wasser, die sie auf einzelne Körperteile legen wird, sodass im Lauf der Performance Unterschenkel, Unterarm, Oberschenkel und Schulter abmodelliert bzw. abgebildet werden. Das Phantasma der Zerstückelung und das Phantasma der Ganzheit, sie bedingen einander gegenseitig. Mit Anne Jurens Betreten der Bühne – Momente größter Intensität und Autorität – wird diese wechselseitige Angewiesenheit noch einmal eindrucksvoll in Szene gesetzt: Während Linda Samaraweerová die Begrenzungen und Einfassungen des Körpers vorführt, lotet Anne Juren dessen Potenzial an Verformungen und Entgrenzungen aus. Wie kann ich den Körper lockern, wie ihn löchern? Welches Eigenleben führen eigentlich die Organe im Körper? Und wie kann ich den Körper mit der eigenen Zunge zerstochern?

Zunge heißt auf Französisch „langue“ – was außerdem „Sprache“ bedeutet. In einer der weiteren „lessons“ kommt Anne Juren auch auf dieses Begehren zu sprechen: „The tongue, desire for language.“ Was Sprache und Körper gemeinsam haben, ist die Stimme – diese Überlegung steht plötzlich regelrecht fassbar im Raum. Und leistet mancherlei Gedankenspielerei Vorschub: Welche andere Körperlichkeit von Sprache, so ließe sich also mit Juren – die in 41 denn auch die Füße als Sehorgan einsetzt – fragen, wäre die Folge, wenn aufgrund einer Laune der Evolution nicht der Mund, sondern die Füße zum Kommunikationsorgan geworden wären? Wie eine Liebeserklärung dann wohl klingen würde?

Vielleicht geht Anne Juren diesen Fragen in einer ihrer nächsten Arbeiten nach. In 41 – wiewohl in „lessons“ strukturiert, so doch auf „desire“ basierend – ist die Liebesklärung, als die die letzte Artikulation ihrer Stimme zu verstehen ist, als zarte Frage formuliert: „Are you here, my love?“

 

[1] Man denke nur an die Veränderungen unserer Konsumgewohnheiten: nikotinfreie Zigaretten, Bier ohne Alkohol, entkoffeinierter Kaffee …
[2] Slavoj Žižek, Lacan. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2011, S. 137.

 

Daniela Finzi entwickelt das wissenschaftliche Programm und Ausstellungen am Sigmund Freud Museum Wien, ist für aka – Arbeitskreis Kulturanalyse tätig und forscht zu Psychoanalyse, Gender Studies und Balkan Studies.

 

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