TQW Magazin
Evelyn Annuß über Ophelia’s Got Talent von Florentina Holzinger

Liquid Queering

 

Liquid Queering

Den Guckkasten als eine Art Tanker von allen Seiten kapern und – unter diesen eingehegten Bedingungen – der Schwerkraft quasi entzogene, fluide Erscheinungs- und Begegnungsformen des Auf- und Abtauchens ausloten … Im September 2022 an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz uraufgeführt und nun als Veranstaltung des Tanzquartier Wien auf der Bühne des Wiener Volkstheaters zu sehen, untersucht Florentina Holzingers aktuelle Arbeit Ophelia’s Got Talent eine andere, liquide Form des Chorischen, des vagen Bezugnehmens, in immer neuen losen Körperkonfigurationen. So liefert diese Arbeit den Ausblick darauf, dass Chöre immer schon environmentale Figuren sind,[1] die sich der Fokussierbarkeit entziehen und deren Erscheinungsformen im Theater dem Tanz näher sind als einer von der zentralperspektivischen Malerei aus gedachten Repräsentationsästhetik. Entsprechend verweist Holzingers nackte motley crew auch nicht auf die Frage nach der Genealogie einer einzelnen Figur, sondern allenfalls in fortgesetzter Übertragung auf die nach der Gattung.

Die Auftrittsform dieses queeren Gefüges erinnert an die „liquidarity“[2] temporärer, apersonaler Bezugnahmen – an „vague belongings“, die die Möglichkeit nichtgenealogischer Allianzen jenseits binärer, kleinfamilialer Heteronormativität aufscheinen lassen und zugleich Signatur postdisziplinärer Beziehungsweisen in der spätkapitalistischen „liquid modernity“ sind. Die letzten Holzinger-Produktionen wurden wegen der exponierten Ballettzitate noch als dekonstruktiv, als negativ bezogen auf das disziplinatorische Bewegungsregime einer ehemals hegemonialen Hochkultur und ihrer misogynen Begleiterscheinungen gelesen. An Ophelia’s Got Talent wird das Eigenrecht der zitierten „minderen“, spektakulären Auftritte akzentuiert, die sowohl unvorhersehbaren, singulären Formen von Virtuosität als auch potenziell anderen Beziehungsweisen Raum geben.

In einer Art aquatischen Apparatur, in die drei unterschiedliche Wasserbecken eingebaut sind, arbeitet Ophelia’s Got Talent entsprechend mit ebenso vagen wie schrägen Formen des Bezugnehmens, die auch die Rahmungen der kollektiv hergestellten, alles Mögliche wild durcheinander zitierenden und sich wieder auflösenden Körperkonfigurationen tänzerisch verflüssigen. Dabei werden sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln ausgeleuchtet. Nikola Kneževićs triptychonartige Bühnenanordnung mit zwei Videoscreens zur ausschnittsweisen Live-Übertragung entzieht sich dem visuellen Erbe des Guckkastens und fordert stattdessen zu allegorischen Betrachtungen dessen auf, was sich im Zuge spektakulär „verunglückter“ Auftrittsformen auf der zunehmend ruinierten Bühne vollzieht. Treten zunächst einzelne nackte Körper in einer Art Casting-Show kompetitiv hintereinander auf, verlagert sich das Geschehen allmählich von der Rampe in die dahinter auf unterschiedlichen Ebenen angelegte Aquarienlandschaft und wird als chorisches Spiel lesbar. Dabei liefern die Screens über Busby-Berkeley-artige Topshots oder von Melody Alias Handkamera aus nächster Nähe aufgenommene Affektbilder anamorphotische Verschiebungen des Publikumsblicks auf die Bühne. In diesem multiperspektivischen Setting bringt Ophelia’s Got Talent jenes „andere“ Theater ins Spiel, das vom bürgerlichen Bühnenverständnis und seinen veristischen Darstellungen in die vermeintlichen Niederungen „minderer“ Spektakel verdrängt wurde: auf den Jahrmarkt, in den Zirkus, in die Freak-, Strip- oder Dragshow …[3] Heute lebt dieses „andere“ Theater live gestreamt in akrobatischen Acts wie dem anfangs aus America’s Got Talent zitierten „aerial pole dance“ nach – oder eben auch als „mermaiding“ auf Social Media, mithin in wasserballettartigen „under water cosplays“ von Apnoe-Taucher*innen, die manchmal auch ökoaktivistisch den Bildbestand imaginierter Aquaweiblichkeit plündern.[4] Ophelia’s Got Talent aktualisiert dieses „andere“ Theater, das eben nicht von der repräsentativen Verkörperung, sondern von einem erweiterten, dem Tanzen näheren Darstellungsverständnis[5] bestimmt ist, lässt es in den Guckkasten einfließen und übersetzt es in die unterschiedlichsten Tauch- und Schwimmübungen.

In Holzingers Arbeit nun sind die aquatischen Verbindungen auch mit einer ganz bestimmten atemberaubenden Virtuosität sich bewegender, weiblich lesbarer Körper verbunden. Deren Repertoire an halsbrecherischen Stunts, Schmerzperformances und Selbstverletzungen stellt die Singularität unterschiedlicher physischer Vermögen auch als eine durchaus brutale Art der Selbstregierungskunst aus. Im chorisch getanzten Umgang mit geschlechterspezifisch codierten Bildern und Erzählungen von Traumata lässt Ophelia’s Got Talent entsprechend sedimentierte Einkörperungen und damit auch deren Potenzial als Trigger für den offensiven physischen Umgang mit Gewalterfahrungen erahnen. Die fiktionalisierten autobiografischen Narrationen, die dieses Tanz- und Tauchtheater mehrfach unterbrechen und im Bild einfrieren, aber sind quasi serielle, weder expressive noch unmittelbar individualisierbare Gewalterzählungen. Kurzgeschlossen werden diese „dragging narratives“ mit ebenfalls seriellen Anspielungen auf Meerjungfrauen und schöne Wasserleichen, wie sie die Romantik als Figurationen der Auflösung menschlicher Gestalt ins Environmentale visualisiert hat – die industrielle Revolution begleitend und die „anthropozoische Ära“ über Weiblichkeitsbilder reflektierend.

Die szenische Verselbstständigung der zitierten Wasserwesen dient in Ophelia’s Got Talent also offenkundig weniger der Illustration von „nackten Frauen auf der Bühne, die patriarchale Fantasien rückerobern“, so eine gängige Empowerment-Lesart. Als Reflexionsfiguren des Environmental-Werdens geraten diese ins Tanztheater übersetzten Wasserwesen vielmehr zum Spielmaterial chorischer Experimente, die die gewaltförmigen „troubles“ der Gegenwart von den auftretenden Körpern aus auch über deren Gendering hinaus apostrophieren. Holzinger arbeitet ohnehin mit Alter als physischem Parameter statt mit binären Gegenüberstellungen visualisierter Weiblichkeit und Männlichkeit. In den letzten Produktionen hoben sich die tanzenden, vermögenden Körper von den Versehrungen der inzwischen 80-jährigen ehemaligen Ballerina Beatrice Cordua ab.[6] In Ophelia’s Got Talent übernehmen nun ein paar plötzlich auftauchende präpubertäre Kids, die als „letzte Generation“ adressiert werden, eine vergleichbare Rolle.

Die Kollektivkopulation der Holzinger-Crew mit einem gekaperten Hubschrauber stellt denn auch über Bande die Generationen- als Gattungsfrage. Die darauf folgende auf dem Screen gezeigte Geburt eines Feuerzeugs, mit dem die Wasserwesen dann eher unmotiviert am immer versiffteren Pool zündeln, ließe sich jedenfalls als Gegenentwurf zur Wohlfühl-Rezeption von Donna Haraway lesen: als ironische Anspielung auf deren feministisches 1980er-Cyborg-Manifest und dessen Fortschrift in die Fabulationen über symbiontische Kreuzungen aller möglichen erdgeborenen „critters“, wie es angesichts des gegenwärtigen Artensterbens in Staying with the Trouble heißt.[7] In Referenz auf feministisch geframte Ökodiskurse exponiert Ophelia’s Got Talent so durch fluid-environmentale Bewegungsformen hindurch offene Fragen nach den Relationen von Ästhetik, Biopolitik und planetarischen „troubles“. Dabei besteht vielleicht gerade in der freundlichen Harmlosigkeit der mitspielenden Kinder die selbstreflexive Qualität dieser queeren Chorarbeit, die um ihre Situierung im hiesigen Guckkastenaquarium weiß.

 

 

[1] Vgl. zum Chorischen Ulrike Haß, Kraftfeld Chor. Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek, Berlin 2019; Sebastian Kirsch, Chor-Denken. Sorge, Wahrheit, Technik, München 2020.
[2] An der queeren Clubkultur skizziert Luis-Manuel Garcia unter dem Stichwort liquidarity, wie Leute auf der Tanzfläche auf- und wieder abtauchen, ohne allzu nachhaltige Verbindungen einzugehen; vgl. Luis-Manuel Garcia, Liquidarity, 2014, https://www.youtube.com/watch?v=hlJBs_zf5HE (Stand: 24.04.2023); ders., Liquidarity: Vague Belongings on the Dance Floor, 2020, https://lmgmblog.wordpress.com/2011/08/06/liquidarity/ (Stand: 24.04.2023). Zur zeitdiagnostischen Verortung des Liquiden vgl. Zygmunt Bauman, Liquid Modernity, Malden 2000, und seine folgenden Veröffentlichungen.
[3] Vgl. Rudolf Münz, Das „andere“ Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell’arte der Lessingzeit, Berlin 1979.
[4] Vgl. zur ökoaktivistischen Variante des mermaiding Tracy C. Davis, Megan Dunn, Sara Malou Strandvad, „Skills and strategies of activist mermaids: from pretty to powerful pictures“, in: Text and Performance Quarterly, 41. Jg., Bd. 3–4, 2021, S. 262–282.
[5] Vgl. zu Formen „minderer Mimesis“ zuletzt Friedrich Balke, Elisa Linseisen (Hg.), Mimesis Expanded. Die Ausweitung der mimetischen Zone, Paderborn 2022.
[6] Zu Tanz, physischem Vermögen und Gouvernementalität vgl. Stefan Apostolou-Hölscher, Vermögende Körper. Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik und Biopolitik, Bielefeld 2015.
[7] Vgl. Donna Haraway, „Ein Manifest für Cyborgs“, in: dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M. 1995 [1985], S. 33–73; dies., Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene. Experimental Futures, New York 2016.

 

 

Evelyn Annuß ist Theater- und Literaturwissenschaftlerin. Sie lehrt als Professorin für Gender Studies an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Momentan arbeitet sie an einem Buchprojekt über dirty dragging, über globale Perspektiven auf mimetische Praktiken. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören alle möglichen chorischen Erscheinungsformen in Kunst, Politik und auf der Straße: Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Massenspiele (2019); Chorische Figurationen (The Germanic Review, Special Issue, hg. mit Sebastian Kirsch und Fatima Naqvi, 2023).

 

 
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