TQW Magazin
Heneliis Notton über Suspírame Lira von Veza Fernández

Lebern & Liebhaber*innen / Livers & Lovers

 

Lebern & Liebhaber*innen / Livers & Lovers

Ich lasse ein Schmetterlingsnetz ins Wasser platschen in der Hoffnung, dass sich darin etwas (an-)sammeln wird. Etwas so Zerbrechliches mit Worten zu versehen, erfüllt mich mit Verantwortungsbewusstsein, denn Momente ohne Worte machen diese ironischerweise erhabener. Selbst handschriftliche Notizen fühlen sich an wie drängende Erklärungen einer erfundenen Wahrheit. Diese unmittelbare Schreibform ist wie die Säure bei Reflux – ich speie sie aus, bevor ich sie vollständig verdaut habe. Obwohl auch das eine Art von Wissen ist … dieses Vertrauen aufs Bauchgefühl. Diese Worte stehen also in Verbindung zu Suspírame Lira. Sie sind nicht „darüber“, „beschreiben“, „übersetzen“ oder „erklären“ das Stück nicht. Wenn überhaupt, dann sind sie vielleicht „mit“ ihm.

Rückenmark
Veza sitzt mit dem Gesicht zum Publikum und trägt ein grünliches Paillettenkleid. Die Pailletten reflektieren sich bewegende Lichttupfen auf den schwarzen Tanzboden.

Freie Rippe
Ich hebe mein linkes Bein, um es über das rechte zu legen. Ich ziehe meine Bluse runter. Unter meinen Achseln ist der Stoff knittrig. Die Länge meiner Hose faltet sich mit mir, während ich meine Knie beuge. Die Performance plätschert in meiner Brust und hat die Form eines T, das auf dem Kopf steht.

Bauchspeicheldrüse
Der Bass ist circa zwei Zentimeter unterhalb des Brustkorbs zu spüren, irgendwo zwischen Bauchspeicheldrüse und Leber. Der Geigenklang bewegt sich in zwei senkrechten Linien über den Bauch. Wer hätte gedacht, dass ich keine *fünf Komma fünf* Jahre Tanzausbildung und *vierhundert* Seiten Camus brauche, um zu verstehen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

Hornhaut
Diese Praxis beinhaltet häufigen Augenkontakt mit dem Publikum, der uns präzise computertomografiert. Der Mensch ist die einzige bekannte Spezies, die errötet. Wie ich. ⸝⸝๑ ̫ ๑⸝⸝

Lunge
Durch die Nasenlöcher, durch den Riechkolben, durch meinen Hippocampus und meine Amygdala, tief in meinen Eingeweiden, fühle ich alle möglichen von Gerüchen ausgelösten vergangenen Begegnungen in meiner Brust. Nach drei Vorstellungen von Suspírame Lira wird während der Autopsie dieses Gebäudes literweise Comme des Garçons von den Sitzen verdunsten.

Spiegelneuronen
Diese Performance ist eine Einladung an das Publikum, dem Sezieren von Körpern beizuwohnen. Die Beziehung zwischen Performer*innen und Zuschauer*innen wird behutsam ausgehandelt und entwirft eine Art tief verwurzelter Transaktionalität in dieser Konstellation neu. Diese Praxis ist keine elitäre Herangehensweise an den Körper, es gibt nicht die Vorstellung, dass jemand „den Körper“ oder „eine Verbindung“ erfindet, zumindest nehme ich nichts dergleichen wahr. Der Körper geht weiter als die Haut, nimmt Eigenheiten, Geräusche, Traumata, Freude und wer weiß was noch in sich auf. Er brütet ständig etwas aus.

Zähne
Anatomie ist das Erforschen eines einzelnen Körpers. Ist dieser erst einmal seziert, ist es schwieriger, die einzelnen Bestandteile zu zählen. Die Fragmente sind immer unweigerlich miteinander verbunden.

Herz
Ich wünschte, ich könnte meine Hände unter meine Haut legen, um meine Organe zu trösten, wenn sie wehtun.

Mandeln
Ich weiß, dass die Vorstellung noch nicht zu Ende ist. Etwas Glitzerndes hängt von der Decke.

Hüftknochen
So eine femmetopische Atmosphäre zu schaffen, ist ein Statement, wo es doch soooooo *niche* ist, auf der Bühne nicht stereotypisch maskulinen Eigenschaften zu entsprechen.

Bindegewebe
Mir ist bewusst, dass Mit-Worten-Verstehen bedeutet, mich der völligen Hingabe an meine Gefühle zu berauben, aber ich kann nicht aufhören. (Sag mir einfach, was es bedeutet, was es wirklich, wirklich bedeutet.) / (Just tell me what it means, what it really really means.) Wie ein Talking Head beobachte ich und nicke, beobachte und nicke, blinzle und nicke wieder, verschränke meine Arme, löse sie ein- oder zweimal, ich denke über die Performance nach, denke über *feministische Theorie* nach, denke an Wörter, die ich verwenden kann, denke an zwei bis drei reimende Silben und denke, denke, denke … bis mein linkes Bein unter der Belastung einschläft. Ich bin eine Marionette meiner Leber, Lunge und Bänder.

Haarfollikel
In der Nacht träume ich von *einem Kunstkritiker*, der einen Haufen *Schleim* betrachtet. Etwas davon klebt an seinen Fingern. Er sagt der Welt, dass es ekelerregend ist, weil der Schleim weder *fest* noch *flüssig* ist, er schreibt, dass Mehrdeutigkeit mit mangelnder Dramaturgie gleichzusetzen ist. Er hatte mehr Freude an der Kunst, bevor alles post-irgendwas war. Er wirft sein MacBook aus dem Fenster, als die Redakteurin auf sein E-Mail antwortet: „Und wo spürst du es in deinem Körper?“

Speicheldrüsen
Die Maschine, die für Geschmack und meine Art der Sinnfindung zuständig ist, hat ihren Griff gelockert. Sie hat begonnen, ihre eigenen Eingeweide zu essen und ihre Wurzeln in die Nicht-Orte umzupflanzen, die die vorherrschenden Formen der Wissensproduktion selten in sich aufnehmen wollen. Bandwurmkern.

Parietallappen
Ich weiß, dass die Vorstellung noch nicht zu Ende ist. Hinten auf der Bühne steht eine schwarz-weiße Gitarre.

Eingeweide
Die Arbeit geht wirklich auf das Publikum ein, finde ich. Auch wenn die Praxis tief aus den Körpern der Performer*innen kommt, wird das Publikum aktiv eingeladen, daran teilzuhaben. Es bedarf einer besonderen Fähigkeit, dem Publikum keine „Tür“ vermitteln zu müssen und stattdessen ohne Türen zu arbeiten. Man könnte über die Marginalisierung queerer Körper sprechen, sagen, dass Wissen über unethische medizinische Praktiken aus der Vergangenheit in die Arbeit eingeflossen ist, man könnte über den westlichen kolonialen Blick sprechen und darüber, wie er unsere konventionellen Wege zur Produktion von Klang, Bewegung, Wahrnehmung und Wissen geprägt hat. Oder man könnte über das sprechen, was ausgeklammert, als primitiv abgewertet wurde. Wenn man sich traut, kann man sagen, dass Suspírame Lira eine Inszenierung von Le corps lesbien (Der lesbische Körper) von Monique Wittig ist. Aber dann würde sich der Kern von Suspírame Lira in Richtung Ware entwickeln, in einen Container voller Schlüsselwörter.

Knochenmark
Das werde ich sein, wenn du mich einfach sein lässt.

 

Heneliis Notton (geb. 2001) ist freie Schriftsteller*in und Kurator*in aus Estland. Sie arbeitet vorrangig mit Text und erforscht unterschiedliche Schreibpraktiken im Versuch, spielerisch kollaborative Wege der Texterstellung zu entdecken. Als Kurator*in und Projektleiter*in arbeitet dey derzeit mit Festivals für darstellende Kunst wie SAAL Biennaal und Baltic Take Over zusammen. Zuvor war sie als Dramaturg*in am Zentrum für darstellende Kunst Kanuti Gildi SAAL in Estland tätig. Dey arbeitet derzeit an deren MA-Abschluss in Queer Performance am Rose Bruford College in London und ist auch Gastdozent*in an der Viljandi-Kulturakademie der Tartu-Universität. Ihr Stück Emesis wurde 2021 bei einem Theaterwettbewerb der Estnischen Theateragentur ausgezeichnet und 2022 als Buch veröffentlicht.

 

 
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