TQW Magazin
Julius Deutschbauer über STAYIN ALIVE – Sneak Preview von Mark Tompkins

Meine Mama ist tot, und mir tut auch schon alles weh

 
STAYIN ALIVE Mark Tompkins

Meine Mama ist tot, und mir tut auch schon alles weh

Unweigerlich fühlt man sich auf die Sturmhöhe, die Wuthering Heights, der englischen Schriftstellerin Emily Brontë versetzt, sobald Mark Tompkins sich, an einem quadratischen Tisch sitzend, zum Wettermacher macht. Er bewegt die Hände, und schon fegt ein Schneesturm über die weiße Tischoberfläche und man hört wie in Brontës Roman die Fensterläden schlagen. Wenn eine Kaltfront eine Warmfront einholt und sich mit ihr vermischt, sprechen Meteorolog_innen von einer Okklusion. Aber im Handumdrehen sitzt Tompkins bereits unterm Tisch. Ein Tisch und sechs Stühle ergeben eine Höhle ohne Ausgang. Gerade noch standen die Stühle im Publikumsbereich. Nur: An Schenkeln und Nacken festgebunden wie die Höhlenbewohner in Platons Höhlengleichnis ist Tompkins nicht; und ein Stuhl ist ein beweglich’ Ding.

„Die Stöckelschuhe der Mutter schlagen Wunden in das Fleisch“, heißt es einmal in STAYIN ALIVE. Offenbar bedeutet das Konglomerat aus Autobiografischem und Fiktion für Mark Tompkins, sich selbst Erzähler zu sein. Jugenderinnerungen betrachtet er als „emotionale Erpressung“. Dem widerspricht Hans Blumenberg: „Erinnerung kommt wie eine Hilfe von oben, um vor einem Nichts zu retten, aus dem keiner sich selbst herausziehen kann, und dem Ich sich selbst zurückzugeben“ („Höhlenausgänge“).

„Denn sein Gedächtnis ist eine Wäscheleine“, schreibt Beckett über Proust. Ähnlich tastet sich Tompkins durch die auf dem Boden verstreuten Erinnerungsstücke, „die Bilder seiner schmutzigen Wäsche aus der Vergangenheit sind erlöst und unfehlbar gefällige Diener seiner Erinnerungsbedürfnisse“ (Samuel Beckett, „Proust“). So liegt über einer aufblasbaren Sexpuppe ein grün schillerndes Kleid, das sich Mark Tompkins bald anziehen wird, ebenso wie die getigerten Stöckelschuhe. Daneben liegen eine rote Langhaarperücke, rote Stiefeletten, eine rote herzförmige Blechdose, Messer, Gabeln, Löffel, eine Haarbürste, Stofftiere und so fort, und das alles zwischen und entlang von labyrinthisch angeordneten Zugbandabsperrungen. Zu „sehr speziellen Liebesgeschichten“ erklärte mein Sohn, der während der Vorstellung neben mir saß, die wie für ein Stillleben angeordneten Gegenstände. „My English is terrible“, bekannte Jean-Louis Badet, der „Maler“ dieses Stilllebens, am Beginn der Aufführung. „Malsteller“ müsste man eigentlich sagen, denn er stellt die verstreuten Gegenstände ins Bühnenbild wie ein Samuel van Hoogstraten. Ich hatte Gelegenheit, bereits vor der Vorstellung eine gute Stunde allein mit dem Bühnenbild zu verbringen, und fühlte mich schier an van Hoogstratens Trompe-l’oeil-Stillleben[1] aus dem Jahre 1664 erinnert.

Auf einem Silbertablett am Boden befinden sich – nein, nicht das Haupt des Jochanaan, und Mark Tompkins ist auch nicht Salome – eine Plastikflasche (blau, weißer Verschluss) Solán de Cabras[2], ein Haarwasser der Marke Seborin[3] (Plastikflasche, braun, gerippt), der Schuhgeruchsstopp Bekra Mineral[4] (Spraydose, blau), eine Dose (rot) Brylcreem Original[5]; Inhalt: 250 ml. „Das sind nicht die Originalrequisiten; das sind Proberequisiten“, sagte Frans Poelstra, der Regie bei dem Stück führte, als er mich nach der Vorstellung mit Block und Bleistift vor dem Tablett kniend entdeckte. Stimmt: Auch Poelstra hatte eine Mutter, deren Strümpfe, Kleid, Schuhe und Federboa er immer wieder gerne ausführt. An das Lied, das er dabei singt – nicht an diesem Abend –, kann ich mich nicht mehr erinnern. Der mutmaßliche Lieblingssong von Tompkins’ Mutter hingegen wurmte mir noch durchs Ohr, nachdem dieser schon längst, die getigerte Kunstpelzjacke seiner Mutter elegant über die Schulter geschwungen, durch das an Flughäfen erinnernde Zugbandabsperrungslabyrinth entschwunden war. „I am what I am“, tönt es in mir immer noch nach. „And what I am needs no excuses.“ In meiner Vorstellung sehe ich Mark Tompkins bereits die eiserne Stiege ins nächste Flugzeug hochsteigen, während ich mich im Geiste in das Haus meiner Mutter versetze. Sie bewegt das Bügeleisen, den Besen, den Staubsauger, die Küchentücher, die Bettdecken, den Kochlöffel, sich selbst und den Werweißwasnochalles beschwingt durch die Räume, gleitet durch und über Staub, Fett, Knitter, Unrat, Schmutz und Eisregentropfen wie auf Teflonsohlen. Nein, tut sie nicht! „Es gibt nur noch den reglosen Körper / quer über das Bett ausgebreitet […] / Es kommt auf nichts mehr an“, schreibt Mila Haugová in dem Gedichtband „Langsame Bogenschützin“ und endigt das Gedicht mit dem Hölderlin-Zitat: „Doch kann der Mensch den Tod dessen nicht glauben, den er liebt.“

Meine Mama ist noch nicht tot, und trotzdem tut mir schon alles weh.

„Kinder brauchen lange, bis sie wissen, dass sie einen Körper haben“ (Michel Foucault, „Die Heterotopien. Der utopische Körper“). Mark Tompkins brauchte Jahre, bis er wusste, dass er den Körper seiner Mutter hat. Und das ist erst der Anfang, denn handelte es sich bei STAYIN ALIVE doch um eine Sneak Preview mit Proberequisiten, wie gesagt.

„Das griechische Wort für Körper erscheint bei Homer nur zur Bezeichnung einer Leiche“, setzt Michel Foucault noch nach. Und damit kommt das Referenzengewitter zu STAYIN ALIVE endlich zu seinem Ende. „Am Ende fühlte ich mich alleingelassen. Trotzdem schön“, so mein Sohn Paul nach der Vorstellung. Der viele Augenkontakt mit dem Künstler habe ihn nervös gemacht. Aber das ist sein Problem.

 

Julia Deutschbauer geboren 1961 in Klagenfurt, lebt als bildender und Plakatkünstler, Performer, Filmer und Autor in Wien und Berlin. Seit 1997 betreibt er die Bibliothek ungelesener Bücher.

 

 

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[1] upload.wikimedia.org/

wikipedia/commons/6/69/Tromp-l’oeil_Still-Life_1664_Hoogstraeten.jpg

[2] The water that flows from a single spring, Solan de Cabras is more than water.

[3] Schnell, wirkungsvoll und einfach – seit über 70 Jahren hilft SEBORIN beim Kampf gegen Schuppen und Haarausfall.

[4] Mit dem Mineral Schuhgeruch Stop von BEKRA sagen wir auch unangenehm riechenden Schuhen „ade!“.

[5] Leichter, glänzender Halt. In den 1940er-Jahren glänzte BRYLCREEM auf den Köpfen britischer Piloten.

 

 

 
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