TQW Magazin
Anna Laner über EXTRA LIFE von Gisèle Vienne

Melting into global emotions

 

Melting into global emotions

Spät dran. Auf dem Fahrrad am Weg ins Theater kurz drüber nachgedacht, was ich da jetzt gleich sehen werde, und fast wieder einmal von einem Auto überfahren worden. Ja, ein „extra life“ bräuchten wir alle manchmal, was für ein guter Titel eigentlich. Und die Betonung liegt natürlich auf dem „extra“, denn dieser Abend hat so viel Lob und Festivaleinladungen bekommen, dass die Erwartungen schon ziemlich hoch sind. Kurz vorm MuseumsQuartier dämpfe ich mich auf dem Rad gleich noch mal innerlich ein bisschen runter, denn zu hohe Erwartung endet ja meistens mit Enttäuschung.

Aber dann sitze ich in der Halle G und bin sofort hooked. Das Einzige, was stört: die Notausgangslichter. Aber die müssen ja sein, also wegignorieren, und das fällt in den nächsten 110 Minuten wirklich erstaunlich leicht, denn an diesem Abend gibt’s so viele „extras“.

Extra Licht z. B.: Wie eine Kamerafahrt, ein Ranzoomen fühlt es sich an, das Aufblenden auf ein Auto, das sich langsam aus der Dunkelheit schält. Sofort ist man drinnen in so einer Horror-Roadmovie-Mood: ein liegen gebliebenes Auto mitten im Wald, vielleicht ein Nach-dem-Unfall-Szenario. Dann Feuerzeugflamme, und langsam werden im Inneren des Autos zwei Körper sichtbar, scheinbar unbefangene Afterhour-Gespräche mit Chips nach einer durchtanzten Party und Beitragsfetzen aus dem Radio. Es wird über Aliens und UFOs gewitzelt, aber auch über Zeitsprünge, Blackouts und Erinnerungslücken gesprochen, und man ahnt schön langsam, dass Erinnern und Nicht-Erinnern an diesem Abend zentral werden.

Die Lichtkegel der Autoscheinwerfer verweisen auf ein Außerhalb, lenken meinen Blick auf den Bodenbelag, den Nebel, und ich bleibe wieder am Licht hängen. Es scheint zu atmen, agiert genauso autonom wie die drei Performenden, aber irgendwie verschoben, als würde es einer eigenen Zeitlichkeit folgen, schnelllebiger sein als das Gespräch der Geschwister Felix und Klara im Auto. Im Scheinwerferlicht taucht eine Person auf und verschwindet wieder. Ein Spiegel der beiden Geschwister oder eine vage Erinnerung vielleicht, die zuerst nur kurz aufblendet, um gleich wieder zu verschwinden.

Das Gespräch zwischen den zweien im Auto kommt wieder in Gang, und bald schon ist es ausgesprochen: der Missbrauch durch den Großvater. Aber man kann bei diesen Worten nicht verweilen, da muss gecuttet werden – und weil wir ja irgendwie auch auf einer Afterparty zu sein scheinen – am besten mit einem Lieblingssong aus dem Radio: Glitter von 070 Shake ergießt sich über die Bühne. Genauso wie der Nebel, der sich so exakt und kontrolliert doch nur im Film über den Boden ergießen kann, aber nicht auf der Bühne mit all ihrer Unvorhersehbarkeit, ihrer Wankelmütigkeit. Aber EXTRA LIFE ist eben der bessere Film. Weil er auf der Bühne stattfindet. Weil er ein Ereignis ist. Weil mir das Gefühl vermittelt wird, hier an etwas Gewaltvollem, aber auch an etwas Befreiendem teilzuhaben, die Zeit und die Bewegung greifen zu können, während Felix sich mondlandungsmäßig schwerelos über die Landschaft bewegt, sich Raum zurückholt oder unbekanntes Terrain erforscht.

Der Boden, übersät mit Schutt und Nebel, hat etwas Anziehendes und zugleich Bedrohliches für die Körper auf der Bühne, Schutzraum oder Verschlucktwerden liegen hier scheinbar nah beisammen. Licht, Sound und Nebel legen sich auch mit der Gravitation an, und ich verliere kurz den Überblick, was oben und was unten sein könnte. Das Bild steht kopf, da bleiben die Gedanken kurz hängen, aber dann ist da der Laser, von dem alle, die schon bei der Ruhrtriennale dabei waren, geschwärmt haben. Das heißt auch hier: „high expectations“ und wieder keine Enttäuschung, denn Katja Petrowick findet im Laser ein Gegenüber on point und keineswegs nur einen „special effect“. Sie spielt mit und kämpft zugleich gegen die Lichtfesseln, die Wände, die sich im Laserlicht ergeben, einengend und raumnehmend – alles wieder gleichzeitig, immer in Bewegung. Angestarrt werden, durchbohrt werden transportiert sich bei mir, wenn diese feinen Laserstrahlen auf die Körper treffen, sie punktuell aufspießen, ähnliche Assoziationen noch mal, wenn im Anschluss Petrowick im Seitenlicht eines einzigen Scheinwerfers in den Lichtkegel schmilzt und der „haze“ gemischt mit dem „gaze“ nur Teile beleuchtet und nie das Ganze zeigt, auch so eine globale Emotion, die ich da wiederfinde: scheinbar zu Boden gedrückt zu werden, ohne sichtbaren Druck, bis der Körper im Bodennebel verschwindet, niedergerungen von einer unsichtbaren Gewalt, oder ein Loslassen. Eine Ambivalenz, die durch den ganzen Abend fließt, in Wellen.

Dann: harter Cut. Wir werden hineingesaugt in eine Albtraumszenerie in Rot, die drei Performenden hineingezwängt auf die Vorderbank des Autos. Um sie herum zieht sich das rote Lasernetz immer weiter zu: der rote Faden der Geschichte also, den man so genau vielleicht gar nicht mehr zusammensetzen wollte, aber jetzt kommen wir dem nicht mehr aus. Der Horror spitzt sich zu, Erinnerungen, vielleicht Rachefantasien und Projektionsflächen liegen kurz frei. Alle drei Körper nehmen die Emotionen der anderen ab, drängen Gewalt, Wut, Trauer, Hilflosigkeit, dieses Konglomerat an Welt, ins Spotlight hinein und lassen sie schlussendlich im Nebel verschmelzen.

Adèle Haenel greift diesen Vorgang im Artist Talk auf mit „melting into global emotions“, und während ich wieder auf mein Fahrrad steige, denke ich mir: „Ja, genau das ist heute Abend hier passiert.“

 

Anna Laner ist Dramaturgin und Regisseurin und setzt sich in ihren Theaterarbeiten verstärkt mit queerfeministischer Geschichtsschreibung und intersektional-feministischen Diskursen auseinander. Von 2015 bis 2019 war sie Dramaturgin am Schauspielhaus Wien. Seit 2019 arbeitet sie freiberuflich vermehrt in kollektiven Arbeitsprozessen für Theater wie das Schauspiel Stuttgart oder das Hessische Landestheater Marburg. Außerdem co-kuratiert sie seit 2020 das Spielzeitprogramm am Kosmos Theater Wien.

 
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