Möglichkeitsräume
Ihren zuweilen als völlig gegensätzlich angesehenen Körperausbildungen folgend – zunächst war es das Ordnungsprinzip des klassischen Tanzes, darauf funktionsgerechte Körperbildungen der Moderne, dazu die Ästhetik der so verschiedenen Bewegungsmodelle – ist Eva-Maria Schallers künstlerisches Schaffen in divergierenden Tanzprinzipien verankert. Mancherlei Gründe machten in den letzten Jahren die Grenzen dieser Prinzipien immer durchlässiger, ein wichtiger davon ist die seit Langem angestrebte Annäherung zwischen Tanzgeschichtsschreibung und Theorie einerseits und Tanzpraxis andererseits. Die Tänzerin selbst sieht in dem Prozess der Annäherung, den man auch als Verschiebung von Prioritäten in der Werkkonzeption sehen könnte, völlig neue Möglichkeiten eines Stückansatzes. Dass dabei die eigenen, aber auch andere, in jedem Falle aber tradierte Arbeitspraktiken mehr und mehr (wieder) ins Bewusstsein gelangen, ist die künstlerische Konsequenz dieser Entwicklung.
Doch das Eintauchen in Möglichkeiten von neuen Arbeitsfeldern – insbesondere der körperlichen Praxis – stellt sich dann keineswegs als einfach heraus, vor allem dann, wenn es um das Nächstliegende geht, um die Auseinandersetzung mit der eigenen körperrelevanten Vergangenheit. Diese erweist sich aus mehreren Gründen als schwierig, zuweilen sogar als schmerzhaft. Denn: Kann, so ist zu fragen, die Erkundung eigener körperlicher Befindlichkeiten und Arbeitsweisen – gegenwärtiger wie vergangener – so ohne Weiteres bewältigt werden? Sind Veränderungen in eigenen Bewegungsvorlieben so klar zu erkennen oder gar zu benennen? Und: Zieht nicht das Hin und Her in divergierenden Körperkonzepten eine Änderung der eigenen Identität nach sich? Vor allem aber: Ist der Versuch einer buchstäblichen Rückkehr in die eigene Körpervergangenheit nicht ein höchst persönliches Unterfangen, das mit niemandem geteilt sein möchte? Und weiter: Sind die schon als Teil der Werkanlage von O! A Biography eingeplanten Erinnerungsmotive, die die eigene Ausbildung thematisieren, auf andere „übertragbar“? Nämlich auf das aus Studierenden der MUK-Privatuniversität bestehende zwölfköpfige Kollektiv sowie auf Mani Obeya und Georg A. Bochow als Sologestalten. Und welchen Stellenwert nimmt dabei die Musik von Matthias Kranebitter ein?
Vielleicht auch um die konzentrierte Auseinandersetzung mit sich selbst (noch) zur Seite zu schieben, war Eva-Maria Schallers bisheriges Tun eher auf den Dialog zwischen dem Eigenen und dem Werk, genauer den Körperkonzepten anderer ausgerichtet, ja dieser war sogar ein Schwerpunkt ihrer Arbeiten der letzten Jahre. Mit ihrer „verkörperten Tanzgeschichtsschreibung“ wandte sie sich ausgewählten Persönlichkeiten der Wiener Moderne zu. Dabei ging es selbstverständlich nicht um ein bloßes Wiederaufführen von Werken, um sie unter heute relevanten Aspekten zeitgenössischen Urteilskriterien auszusetzen – Schaller interpretierte bereits bestehende Rekonstruktionen von Solostücken von Hanna Berger, Rosalia Chladek und Grete Wiesenthal –, sondern um viel mehr. Von der eigenen Verfasstheit ausgehend sollten mit Umsicht und Feingefühl gewesene Kontexte hergestellt und Befindlichkeiten nachempfunden, Bewegungscharakteristika und Schrittfolgen gefunden, vor allem aber Zusammenhänge erkundet werden, in denen diese Werke entstanden. Ein 2019 gewählter Titel What we hold inside kann als Programm für das Folgende angesehen werden. Eine choreografische Annäherung an Hanna Berger (2019) und Recalling Her Dance – a choreografic encounter with Hanna Berger (2021) bezeichnet Schaller ihre Auseinandersetzung mit dem Werk der ebenso feinsinnigen wie provokanten Tänzerin Berger. Ende / Anfang, Der Wind (2023) nennt sie dann ihre Begegnung mit Grete Wiesenthal und deren fließendem Bewegungsstil. Gedanken über die Weitergabe von „Tanzerbe“ überschreibt sie mit „Weiter – geben“.
Nun also – im Herbst 2024 – der nächste Schritt der Erkundung, diesmal in tiefer liegende Schichten des eigenen Körpers. Galt Schallers bisherige Arbeit der Auseinandersetzung mit Frauen der Moderne, so versucht die Tänzerin nun, sich jener Zeit anzunähern, in der sie selbst in der Ballettschule der Wiener Staatsoper (respektive Ballettschule der Österreichischen Bundestheater) studierte und damit – auch als Teilnehmende an Opernproduktionen – einer 400 Jahre alten Tradition angehörte.
Und wieder ein Schock von Fragen: Wie geht der eigene Körper, gefühlt als „Archiv der eigenen Vita“, damit um? Wie gestalten sich die Wiederbegegnungen mit Körperidealen und Ordnungsprinzipien des klassischen Tanzes, die den Auszubildenden zunächst vor allem fremd und sinnlos scheinen? Wie hat man als Kind diese Ausbildung wahrgenommen, und änderte sich später die Einstellung dazu? Welche Möglichkeiten ergeben sich nun aus den verschiedenen Ebenen des Über- und Ineinandergreifens, welche aus der Tatsache, mit enormen Zeiträumen umgehen zu können? Und wiederum: Welchen Veränderungen ist dabei die eigene Persönlichkeit, vielleicht sogar die eigene Identität unterworfen? Wo und wie ließe sich nun eine Neuerzählung verorten?
Das neue Stück – im Rahmen von Wien Modern uraufgeführt – wird nun als „opéra-ballet“ ausgewiesen, zum verwendeten Körpermaterial kommen Sprech- wie Gesangsstimme hinzu, auch dies übrigens ein kompositorisches Mittel der Tanzmoderne. Eines weiteren Charakteristikums dieser stilistischen Richtung bedient sich Eva-Maria Schaller, wenn sie ihr neues Stück in enger Zusammenarbeit mit einem Komponisten – Matthias Kranebitter und dessen Black Page Orchestra – entwickelt. Schaller nimmt darin eine besondere Rolle ein: Sie beobachtet das Geschehen von außen, kommentiert es und greift, mitgerissen von der Force der von Irene Delgado-Jiménez dirigierten Musik, innerlich bewegt auch tänzerisch ein.
Gunhild Oberzaucher-Schüller promovierte über Bronislawa Nijinska. Lehrte Tanzgeschichte an den Universitäten Wien, Bayreuth und Salzburg sowie an der Ballettschule der Österreichischen Bundestheater und am Konservatorium der Stadt Wien (heute MUK Privatuniversiät). Betreute den Tanzteil von Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Leitete die Derra de Moroda Dance Archives der Universität Salzburg. Herausgeberin von Ausdruckstanz (1991, 2004), Rosalia Chladek. (2002, mit I. Giel, englisch 2011), Souvenirs de Taglioni (2 Bände, 2007), Mundart der Moderne. Der Tanz der Grete Wiesenthal (2009, mit G. Brandstetter). War Ko-Redakteurin der Tanzblätter. Internationale Vortragstätigkeit und Veröffentlichung von Wiener Tanzgeschichten auf tanz.at.