Momente letzter Schönheit
Mit jedem Tanzschritt schreitet auch die Menschheit fort, kaum merklich, aber konsequent. Sie blickt zurück, bezieht sich auf Gewesenes und geht zugleich unaufhaltsam voran. Es ist kein Zufall, dass in der Choreografie von Stranger Than Paradise die kunsthistorischen Bezüge ebenso entscheidend sind wie die Visionen und der latente Futurismus in den Bildern, den Figuren, ihrem Driften, ihren Ticks. Die Zeit ist hier aus den gewohnten Fugen, sie erscheint kühn komprimiert und doch verblüffend neu entfaltet.
Die Liquid-Loft-Produktionen der vergangenen zwei Jahre schreiben einander fort: Die ehemals Alleinstehenden, nur mit sich Beschäftigten rücken nun zusammen, vermeiden aber jede Berührung; sie gleiten, einander nur im Ansatz zugewandt, lautlos aneinander vorbei. Die innere Logik, der sie folgen, ist eine künftige, das Pathos ihrer Körper gedämpft durch die Abgeklärtheit, auf die sie programmiert sind: fluide, flüchtige Charaktere, im Gleichschritt sich wiegend, im Schmerz erstarrt wie hinter kaltem Glas.
Sanft zerrinnen die Ansichten der Individuen, unaufgelöst zwischen Tier, Mensch und Maschine, in den konkav gestellten Spiegeln. Ihre Flächen generieren Trugbilder, werfen nicht zurück und weisen nicht ab, laden vielmehr zur Passage und zum Transit ein. Lewis Carrolls Alice gerät, indem sie durch den Reflektor geht, in ihr Wunderland, und auch Jean Cocteaus jugendlicher Dichter in Le sang d’un poète fällt nach dem Sprung durch die Oberfläche des Spiegelozeans in den Abgrund einer beunruhigenden Parallelwelt. Hinter den Spiegeln liegen Gegenwelten, Ungeahntes, Vorbewusstes. Die Illusion ist nur die andere Seite der „Wirklichkeit“, die Entstellung der einzige Weg zur Kenntlichkeit.
Im improvisatorischen Durchlauf der Verkleidungen wird der Wunsch nach flexiblen, wenn man so will: liquiden Identitäten verdeutlicht. Die Farben leuchten, aber die Körper drohen dahinter (wie in den Spiegeln) zu verschwinden, sich anzupassen, sich bis zur Unsichtbarkeit einzufügen. Die Textilien helfen dabei, immerfort die Richtungen zu wechseln, sie assistieren bei den ersehnten Kurs- und Selbstkorrekturen. Das Ensemble scheint im nüchternen Weiß des Bühnenraums gleichsam unscharf zu werden: „out of focus“. Der Spiegel teilt Emotionen (und er teilt sie auch mit), bleibt dabei aber selbst vollkommen stoisch. Er setzt eben keinen Fokus, wirkt egalitär, ihm ist alles gleichgültig, weil in ihm alles gleich gültig ist. So verschwimmen die DarstellerInnen ineinander, die sich vor den Zerrflächen rekeln.
Stranger Than Paradise, in versunkene Stimmungen und trügerische Bilder gesetzt, ist eine Elegie, die in verlangsamter Konfiguration den Übergang von einer Spezies in die nächste markiert, ist eine Reflexion der systematischen Erweiterung menschlicher Kapazitäten in das Mechanische, das Animalische, bisweilen auch das „Monströse“ einer gemischt tier-menschlichen Existenz hinein. Eine Serie kryptischer Posen, die in diesem Werk wie geheime Übereinkünfte vollzogen werden, bilden das Präludium zu einem Schauspiel von Magnetismus und Fluktuation.
Die Künstliche Intelligenz, die der natürlichen nachempfunden ist, aber dazu konstruiert wurde, über diese jederzeit hinauszugehen, wird zur Etablierung einer neuen Ethik führen, zu der Nicht-Maschinen nachweislich nicht imstande sind. Die selbstlernenden, kognitiven Apparate, die wir uns zur Seite stellen, treffen algorithmisch festgelegte Entscheidungen nach einer unbestechlichen, aber hochproblematischen Moral, die in lebensbedrohenden Situationen das jeweils geringste Übel wählt. Wer retten will, muss Opfer bringen. Die Verantwortung für die Triage wird an die Maschine delegiert. Sie wurde schließlich zu eigenständigem Denken programmiert. Das klingt paradox: Die Selbstbestimmung ist verordnet, zur Autonomie wird genötigt, in die Freiheit fixiert. Der strukturelle Widerspruch, der sich darin findet, und der Zwang zu immer höherer Leistungsfähigkeit haben unter denen, die den Menschen ersetzen werden, für große Müdigkeit gesorgt. Ihr Ennui ist greifbar, aber er wirft Momente letzter Schönheit ab.
Die Trennung von Körper und Gefühl ist kaum zu bewerkstelligen, obwohl das Wagnis einer permanenten Identitätsverwandlung die physische Stabilität bei erhöhter Euphorie radikal unterläuft: Ich kann alles sein, auch ein Objekt! Der von Friedrich Nietzsche einst propagierte Menschenentwicklungsschub führt unweigerlich, von der Gegenwart aus betrachtet, in einen artifiziellen Kosmos, in die Maschinenkunst, in ein Second Life, das neue Realitäten und virtuelle Identitäten bietet.
Im Paradies erschiene einem alles fremd (schon weil es derart fern ist), aber hinter den „liquid mirrors“ und jenseits der Anthropo-Zentren ist Fremdheit gar kein Ausdruck mehr.
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