TQW Magazin
Lise Lendais über Rakete Part 2 - Lena Schattenberg und Susanne Songi Griem mit Pete Prison IV

Oh, les filles!

 

Oh, les filles!

Auf Deutsch bedeutet „Stoff“ Material/Textil und zugleich Idee/Inspiration. Dieses Wort fasziniert mich, weil es die Essenz meines Schaffens umschreibt. Es könnte ein Übertitel für den zweiten Raketeabend sein.

Am Montag, dem 9. Mai, bittet mich Christina Gillinger, für das TQW Magazin über die Stücke von Lena Schattenberg und Susanne Songi Griem zu schreiben, die am darauffolgenden Freitag Premiere haben werden. Die Frist ist kurz, aber ich sage zu, weil Lena und Susanne Künstlerinnen sind, die ich sehr schätze. Beide habe ich durch das Kostümdesign kennengelernt, und unsere Wege haben sich an unterschiedlichen Momenten gekreuzt, die ich hier mit den Leser*innen teilen möchte.

Donnerstag, 12. Mai 2022
Es ist der Tag vor der Premiere.
Ich besuche Lena und Susanne in den Studios des Tanzquartier Wien. Wir haben vereinbart, dass ich gegen Mittag vorbeikomme. Zuerst gehe ich zu Susanne, und als ich im Studio 3 ankomme, hat der Durchlauf bereits begonnen. Susanne ist schon auf der Bühne und begrüßt mich. Ein Fuß ist nackt, der andere ist mit einem hohen, schwarzen, laut klackernden Stiefel versehen. Humpelnd trägt sie einen Stuhl mit einem Haufen Kleidungsstücken darauf – ach, Susannes fröhlicher Krimskrams! Pete Prison IV betritt die Bühne in einem rosa-blau-weißen Bademantel (Mael Blau ist für die Kostüme verantwortlich). Es ist, als würde man die beiden beim Sprung aus dem Bett erwischen. Christa Spatt ist bereits da und sitzt auf der Tribüne. Ich setze mich neben sie. Susanne blickt uns intensiv an, wie sie es immer macht, um uns zu sagen: „Ich habe euch gesehen, ihr schaut mich an und ich schaue euch an, ich höre euch zu, und mit euch werde ich jetzt tanzen.“
Anschließend wechsle ich zu Lena ins Studio 2. Sie ist erkältet, aber wir haben trotzdem einen spannenden Austausch über das Kostümdesign ihres Stücks. An das Oberteil ihres schwarzen Overalls sind kunstvoll beigefarbene Klettverschlussstreifen genäht, die die am Boden ausgebreiteten Stoffteile aufnehmen, sobald Lena sie mit ihrem Kostüm berührt. Lena erzählt mir, wie sie von London aus mit dem Künstler Theo Clinkard an einer „Kostümpartitur“ gearbeitet hat. Ich finde die Idee sehr spannend und kann es kaum erwarten, die Premiere zu sehen. Lena hat auch Philipp Gehmacher, Frédéric Gies und Samuel Feldhandler um Tanzpartituren gebeten, die sie alle miteinander verknüpft hat, um ihren eigenen Tanzstoff zu kreieren. Samuel F. ist ein wichtiger Partner für Lena, und durch ihn sind Lena und ich uns vor drei Jahren zum ersten Mal begegnet.

Juli 2019 – LENA
8:tension, ImPulsTanz, ’d he meant vary a shin’s von Samuel F.
Ich nehme Änderungen an den Kostümen vor. Lena ist eine der drei Tänzer*innen in dem Stück. Zum ersten Mal treffe ich sie im Proberaum des Schauspielhauses. Lena ist groß und schön, Lena ist anmutig. Ihre Präsenz beeindruckt mich. Ihre Arme und Beine sind unendlich lang. Ihr Blick durchdringt auch ohne Licht den Raum und beschreibt die Linien der Choreografie.

August 2019 – SUSANNE
Etwas später im Sommer gebe ich einen Kostümworkshop für das ImPulsTanz-Festival, bei dem ich Susanne zum ersten Mal treffe.
Susanne ist Teil der danceWEB-Gruppe. Wir sind in der Kostümwerkstatt des Odeons. Susanne arbeitet auf dem Boden, ein wenig abseits der Gruppe. Sie spricht nicht viel, sie arbeitet, strickt, fügt kleine Elemente zusammen, verstreute Materialstücke. Sie greift alles auf, was sie findet, und integriert es in ihr Werk. Innerhalb von drei Tagen entstehen daraus Elemente für Kostüme und Requisiten, überall im Raum präsent, und das ist wunderbar.

August 2019 – LENA

Ich fahre zur Ruhrtriennale, um mir eine Premiere der Needcompany anzusehen. Lena ist als Zuschauerin dabei, und es ist das erste Mal, dass ich sie nicht auf einer Bühne sehe. Zwischen uns entsteht eine stille Beziehung, basierend auf unserem Interesse an der flämischen Welt der darstellenden Künste. Ich habe mehrere Jahre mit der Needcompany gearbeitet, und Lena wird sich später der Kompanie Rosas anschließen.

Dezember 2019 – SUSANNE
Im LE STUDIO Film und Bühne findet Raw Matters statt. Susanne ist im Programm.
Susanne, “Dance for me, dance for me, dance for me, oh, oh, oh”. Auf der Bühne treffe ich sie wieder, wo sie bei Dance Monkey von Toni and I explodiert (was später zu einem Running Gag zwischen Susanne und meiner Tochter werden wird).
Ich schlage ihr vor, diese Arbeit im LE STUDIO fortzusetzen. Susanne erhält zu jener Zeit keine Subventionen der Stadt Wien, aber wir finden eine Lösung! (Die Unterstützung der Stadt Wien wird sie dann später bekommen.)

Mai 2021 – LENA
Rakete, Tanzquartier Wien
Lenas Körper begegne ich das nächste Mal bei Immerhin ist mein Himmel hin (Sonata #5) von Samuel F., einem Stück, für das ich die Kostüme mache. Lena ist wieder gewachsen, das Studio 2 im TQW ist schon fast zu eng für ihren Körper, für ihre Augen. Wir arbeiten mit Samtstücken für die Kostüme und das Bühnenbild. Lenas Anmut wird sich nicht von Samt zähmen lassen, sie wird den Großteil des Stücks in T-Shirt und Höschen performen.

Oktober 2021 – SUSANNE
Nach eineinhalb Jahren Arbeit, Residenzen und Verschiebungen hat Susanne endlich Fisch und Schwan in Negligé im LE STUDIO uraufgeführt. Ihr Stück ist überall! Sie hat das ganze Gebäude be- und verstrickt: das Foyer, die Garderoben, die Sitze der Tribüne mit der Bühne …

April 2022 – SUSANNE
Spaziergang bei Tag mit Susanne, if we walk together, I’m not scared.
Susanne verabredet sich mit mir und meiner Tochter um elf Uhr an der Station Prater – Hauptbahnhof der Liliputbahn. Es ist ein sonniger Sonntag, aber es ist kalt. Susanne wickelt meiner Tochter ihren Schal um den Hals und gibt ihr ihre Mütze. Sie nimmt uns an der Hand, wir gehen zusammen spazieren, es ist schön.

Freitag, 13. Mai 2022
Premieren.
Der Saal ist voll. Ich mache mir ein bisschen Sorgen um dich, Lena, ich hoffe, dass du tanzen und singen kannst. Du siehst majestätisch aus. Du schaust uns mit deinen Rehaugen an und hältst uns in Schach. Sogar Albert, der Sohn von Krôôt und Alex, der in der ersten Reihe sitzt, ist während des ganzen Stücks still. Du nähst jedes kostbare Element, das du von deinesgleichen gesammelt hast, mit Eleganz zusammen. Ich würde dich am liebsten im Freien springen sehen, damit der Wind dich trägt.
Pause
Wir gehen durch die Bibliothek des Tanzquartiers ins Studio 3, ein Spaziergang, der von Susanne hätte geschrieben sein können. Was für ein Schelm! Du hast wieder viel verändert. Du verwandelst Studio 3 in einen Dorfplatz, es gibt keine Grenze mehr zwischen dir und uns, wir treten in den Tanz ein.
Susanne, ein Detail hatte am Vortag meine Aufmerksamkeit erregt: sechs pyramidenförmige Objekte, die auf dem Teppich lagen. Ich dachte, es seien Eisstücke, die während des Stücks schmelzen sollten. Aber du hast mir gezeigt, dass sie aus Epoxy bestehen, in das eine grüne Feder eingeschlossen ist. Wahrscheinlich hat dich das Bild vom Eis nicht in Ruhe gelassen, denn am Tag nach der Premiere hast du mir um 15:27 Uhr zwei Fotos von großen Eiswürfeln mit eingefrorener Feder geschickt. Hast du diese Eispyramiden etwa in der Aufführung am Samstag benutzt …?

Oh, Mädels, was für einen Weg habt ihr in den letzten Jahren zurückgelegt, in denen ich das Glück hatte, euch kennengelernt zu haben und mit euch ein Stück spazieren zu gehen!

Oh les filles ist ein Lied der französischen Rockgruppe Au Bonheur des Dames.
Der Text geht so:
Oh, ihr Mädels, oh, ihr Mädels,
Ich, ich liebe euch so sehr.

 

Lise Lendais hat in Frankreich Bühnenbild und Kostüm studiert. Ihre künstlerische Arbeit begann in Belgien mit der Needcompany. Seit 2010 arbeitet sie als Kostüm- und Bühnenbildnerin mit darstellenden Künstler*innen der freien Szene zusammen. Seit 2018 leitet sie gemeinsam mit Pierre-Emmanuel Finzi LE STUDIO Film und Bühne, eine Struktur für Theater und Kino mit Sitz in Wien. 2022 erhält sie ein Arbeitsstipendium der Kulturabteilung der Stadt Wien im Bereich Performance.

 

 
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