TQW Magazin
Aleksei Borisionok über Untitled (Holding Horizon) von Alex Baczyński-Jenkins

Organisation ohne Mitglieder

 

Organisation ohne Mitglieder

In ein gedimmtes Lichtspektrum aus Rot, Blau, Violett und Pink getaucht, führen in Untitled (Holding Horizon) fünf Tänzer*innen – Aaa Biczysko, Ewa Dziarnowska, Rafał Pierzyński, Ronald Berger und Sigrid Stigsdatter – durative Bewegungen aus. Es beginnt, bevor das Publikum den Saal betritt, und endet im Dunkeln. Es ist ein langes, reizvolles Stück, das drei Stunden dauert und dabei etwas mit der Zeit macht; nicht nur mit dem Erleben von Zeit, sondern auch damit, wie Zeit – in einem Club oder in einem queeren Aufstand – zirkuliert, gestört und unterbrochen wird.

Abfolgen von Box-Step-Grundschritten sind in Form von Variationen organisiert, die in unterschiedlichen Tempi und in unterschiedlichen Ausmaßen wiederholt werden. Die Gruppierung der Tanzenden hat keinen Mittelpunkt – der Mittelpunkt verschiebt sich immer entsprechend der Choreografie, die die Körper näher zusammenbringt und die Nähe wieder aufhebt. Es gibt keine Auflösung, weder in der Choreografie noch im Klangteppich, stattdessen gibt es Momente der Intensivierung. Ebenso wie die Bewegung vergeht auch die Musik nie völlig. Krzysztof Bagiński mischt sie live: von subtil geloopten Samples aus Stimmen und Klängen über laute Tanzclub-Elektronik bis hin zu polnischen Popsongs und Froschchören. Weil die Musik (trotz der Verwendung von Trancemusik-Samples wie Baby Blueʼs Eurodancer) zu keinem Zeitpunkt trancig ist, lenkt sie die euphorischen Momente beim Hören nicht, sondern sucht nach anderen langlebigen affektiven Strukturen. Im gedimmten Licht ist der choreografische Raum für Handykameras undurchdringlich – die Abstraktion wird nur in den kurzen Momenten intensiver Beleuchtung schweißtreibend.

Die Körper der Performer*innen folgen in ihren Drehbewegungen unterschiedlichen Partituren – und streben dabei nach dem Hochgefühl, das sie in Synchronizität zu finden hoffen – eine ständige Wiederholung von Gesten, die einen Abdruck im Raum hinterlassen. Wenn einige der Performenden die Bühne verlassen, um sich umzuziehen oder eine kurze Pause zu machen, fällt das kaum auf – das Auftreten und Abgehen erfolgt stets verhalten, der Rhythmus zirkuliert und umkreist die Szene. Gesten der Aufmerksamkeit, Verführung, Anziehung, Berührung, einer persönlichen Note werden von allen Performer*innen in variabler Reihenfolge wiederholt. Sie bewegen sich zwischen straffer Organisation und expressiver Spontaneität und sind in einer Partitur formalisiert. Etwas, das reproduzierbar und dennoch jedes Mal einzigartig ist. Der repetitive Rhythmus verleiht dem Tanzen etwas Förmliches, indem er ein Paradoxon zum Ausdruck bringt, das in den Begriff des queeren Formalismus eingeschrieben ist. William J. Simmons meint dazu: „Formalismus erfordert die zentrale Bedeutung eines Objekts, während das Queere Autor*innenschaft und universelle Konzepte ablehnt. Queer untergräbt die Einzigartigkeit, während das Medium sie erfordert.“[1] Direkt auf Räume queerer Intimitäten und nächtlicher Zeitlichkeiten bezogen, übertrifft das Stück die Erwartungen, indem es Begriffe wie Organisation, Deposition und Repetition nach formalistischen Gesichtspunkten hinterfragt – und dabei zu einer Diagonale, einer Transversale, einem Blickfeld wird.

Die Formalisierung hilft auch bei der Auseinandersetzung mit den Mechanismen politischer Organisation, der (Un-)Vereinbarkeit von Dringlichkeit und Vorausplanung, den abstrakten Merkmalen von Bewegungen – in politischer wie auch in choreografischer Hinsicht. Performance wird zu einer Art Destitution[2] – der Weigerung, eine repräsentative Souveränitätspolitik aufrechtzuerhalten. Choreografie errichtet Gerüste, um die herum queere Affektivität aufgebaut wird. Eine gesampelte Stimme aus der Performance, die mir im Gedächtnis geblieben ist, sagt immer wieder: Could you make this promise to me – You make it back in one piece. Das Konzept der Kamerad*innenschaft geht davon aus, dass affektive Bindungen und politische Befindlichkeiten undurchdringlich, präfigurativ und erfreulich sind und die eigene Subjektivität (im gemeinsamen Blickfeld von Kampf und Ausgelassenheit) auflösen. Wenn die Einzigartigkeit eines Ereignisses ein gewisses Maß an Offenheit, Intuition und Genussfähigkeit erfordert, wird es zu einer Organisation ohne Mitglieder.

 

[1] William J. Simmons, „Notes on Queer Formalism“, 2013, bigredandshiny.org/2929/notes-on-queer-formalism/ (letzter Aufruf: 20.04.2023)
[2] Im Sinne von Stefan Nowotny, „Der doppelte Sinn der Destitution“, 2007, transversal.at/transversal/0507/nowotny/de (letzter Aufruf: 20.04.2023)

 

Aleksei Borisionok lebt und arbeitet als Kurator, Autor und Organisator zurzeit in Wien. Er ist Mitglied der künstlerischen Forschungsgruppe Problem Collective und der Arbeitsgemeinschaft Work Hard! Play Hard!. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften, Kataloge und Online-Plattformen, u. a. für e-flux Journal, L’Internationale Online, Partisan, Springerin und Paletten über Kunst und Politik. Derzeit ist er Fellow am Vera List Center, New York, und gemeinsam mit Katalin Erdődi Ko-Kurator*in der kommenden Ausgabe der Matter of Art Biennale in Prag (2024).

 
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