TQW Magazin
Kenneth Constance Loe über S_P_I_T_, Tag 2

Spürbar

 

Spürbar

22.10 Uhr. Spürbar. Das Wort klebt auf meiner Haut wie die Nachmittagshitze, in der sich die Pfützen nach dem heutigen Nieselregen sanft auflösen. Tosh Basco glitzert in Untitled Series in einem voluminösen Kleid. Sie wirbelt silbrige Strahlen durch den Raum, die wie Sterne am Nachthimmel funkeln, und wiederholt schroff murmelnd etwas über Selbstzweifel, während sich das Kleid wie leicht geschlagener Eischnee aufwölbt. Es ist die letzte Performance des Abends, und die Bühne siedet in einem Eintopf aus verblutender Liebe – uns wird ein Tanz aus Schnittwunden und Prellungen serviert. Die Intimität gefällt sich in ihrer unheimlichen Fähigkeit, uns in stillen Blues zu hüllen, während Tosh sich dreht und windet und ihre Gliedmaßen mit dem Mut zur Erinnerung die Luft durchschneiden. „I wanted to dance this dance for you.“ Ist es das, was gesagt wurde? Ich weiß noch, dass ich auf die Handys einiger Freund*innen vor mir geschaut habe, auf die eingefangenen kleinen Ausschnitte der Performance. Den indirekt auf den Displays weiterglitzernden Schimmer, das weiterspuckende Funkeln, die weiterspeiende Hitze, bis es Basco scheinbar zu viel wird. Sie legt das Kleid ab, als wäre es ein Kokon. Sie tanzt weiter. Das Wort „spürbar“ geistert immer noch in meinem Kopf herum.

20.30 Uhr. In Spucke_5: All different, all the same, alone. Remixed. verortet sich Denise Kottlett in den Krisen der letzten zwei Jahre, die uns alle umgeben. Das Timbre ihrer Stimme lässt uns ihre Frustration spüren, die Stiefel abgestreift, bevor sie ihre Füße in einen Eiskübel steckt. Bald darauf taucht sie in eine Lacke aus Eiswürfeln; im Hintergrund sind Gletscher an die Wand projiziert, die in sich zusammenfallen, während ihr Körper sich windet und Anspruch auf eine Katastrophe von gewaltigem Ausmaß erhebt. Der Beat ist hochfrequent. Die Kälte ihrer Welt frisst sich in alle Glieder. Dieser Kiki ist eiskalt. Ich möchte auch in die Pfütze eintauchen und meinen Körper von der unerträglichen Hitze befreien. Sie wischt die Überreste mit einem Mopp auf, schüttet das Eis mit bloßen Händen in einen Kübel und lässt uns nebenbei wissen, dass die Performance bereits seit einer Weile vorbei ist. Wir lachen, applaudieren und jubeln ihr zu. Ich bin erleichtert für sie (und uns). Frostbeulen und Reproduktionsarbeit sind unbarmherzig, durchdrungen von einer Politik, die den Müden und Queeren keine Atempause gönnt.

21.00 Uhr. Jolanda Helena Resch, unsere Gastgeberin für den Abend (und das Festival), führt uns – vorbei an Büros und zwei Treppenabsätze hinauf durch die Bibliothek des Tanzquartier Wien und wieder hinunter – zurück ins Foyer, das als Aufenthaltsraum zwischen den Performances dient. Der Weg ist relativ kurz und geradlinig; er fühlt sich aber labyrinthartig an, nicht unähnlich der Queerness der Sehnsüchte, die durch unsere Adern, Arterien, Kapillaren fließen, gegen die Haut gluckern und sich aus eigener Kraft in der Zuneigung anderer zu materialisieren versuchen.

„Time is the substance I am made of. Time is a river which sweeps me along, but I am the river; it is a tiger which destroys me, but I am the tiger; it is a fire which consumes me, but I am the fire.“ – Jorge Luis Borges, Labyrinths: Selected Stories & Other Writings

Der Sekt kann die Hitze in mir nicht löschen; sie ist in jeder Bewegung und in jedem Wort, das ich sage, spürbar. Ich nutze jede Gelegenheit, die sich mir bietet, d. h. jede zehnminütige Pause zwischen den Performances, um an die frische Luft zu gehen, auf eine Zigarette, und dabei stoße ich jedes Mal auf Freund*innen und bekannte Gesichter. Wir unterhalten uns über die soziale Intensität der aktuellen Woche, tauschen Eindrücke und Gedanken zu den Vorstellungen aus, diskutieren über bevorstehende Partys, Sommerpläne, Geschirrspülsituationen und Strategien zur Visumsverlängerung. Jolanda erinnert uns mit freundlichen Worten daran, dass es Zeit ist, für die nächste Performance wieder hineinzugehen. Sie erzählt von einer sehr persönlichen Erinnerung an das Festival vor drei Jahren; ein Moment der Verletzlichkeit wird geteilt. Auf meinem Weg die Treppe hinauf gehe ich an Tosh Basco vorbei, und mir wird erst nach der Performance bewusst, dass sie die Künstlerin namens boychild ist bzw. früher unter diesem Pseudonym bekannt war. Die Zeit mag für mich stehen geblieben sein, aber dieser Raum fühlt sich sicher an. Die Luft ist weiterhin schwer, und die Brise bleibt bis nach der letzten Performance warm – dann, endlich, aus dem Nichts, senkt sich kühle Luft über die Performance Passage.

21.20 Uhr. Lau Lukkarila und Luca Bonamore beginnen ihr Stück Lapse mit einer sinnlichen Interpretation von Lady Gagas Alejandro. Jedes Mal, wenn sie Alejandro als Alessandro aussprechen, gibt es Lacher aus dem Publikum – gar nicht so einfach, wenn man bedenkt, dass der Name über zehnmal in den Strophen und im Refrain vorkommt. Sie tragen beide ähnlich geschnittene Kleider mit tiefem Ausschnitt und langen Schlitzen – je länger der Schlitz, desto mehr scheint es sich um ein Spiel aus falsch verwendeten Begriffen und Aussetzern zu handeln. Die Chemie zwischen den beiden ist von Anfang an spürbar. Der jazzige Tonfall in der Stimme, die Techno-Bewegungen und Kostümwechsel spiegeln sich vor einer projizierten Kulisse aus rosafarbenen Rosen, kobaltblauer Beleuchtung und einem energiegeladenen Soundtrack. Die Tänzer*innen laufen einander hinterher, drücken einander gegen die Wand, hohe Kicks, hechtende Sprünge, synchron bewegte Körper, und alles gipfelt in einer längeren heißen Sequenz, in der der Tanz der Begierde einen asynchronen Moment erzeugt – einen Kuss, eine regelrechte Knutscherei. Es tut beinahe weh, diese ungezügelte Clubaffäre vor mir aufblühen zu sehen, Fleischlichkeit in all ihrer flüchtigen Pracht, verdichtet in eine dickflüssige Zukünftigkeit. Das Stück endet damit, dass Bonamore zu Lukkarilas gefühlvoller Interpretation von Radioheads Creep an einer Stange tanzt, während sich sein Schatten scharf auf den projizierten Dashcam-Aufnahmen eines Roadtrip abzeichnet; durch ein komisch-poetisches Zusammenspiel aus Körpern, Fahrzeugen und allem, was zu Körperlichkeit und Eskapismus dazugehört, noch verstärkt, während sie langsam von der Bühne ab- und dem Horizont entgegengehen. Das erinnert mich an Benito Skinners Sketch[1], in dem er als Jonathan Van Ness Jesus spielt und zu Maria Magdalena sagt: „Es ist so verrückt, dass alle glauben, wir wären zusammen [kichert]“, worauf sie mit einem allzu bekannten: „Ja, verrückt [gequältes Lächeln]“ antwortet. „Es ist verrückt. Aber, ähem, was sind wir denn?“ Und dann der Schnitt zu einer Großaufnahme von ihm, wie er sich lässig durch seine langen Haare fährt und für den Bruchteil einer Sekunde in die Ferne schaut, in den Abgrund.

19.30 Uhr. Ich gehe auf das rechte Ende der letzten Reihe zu, wo ich eine kleine Ausbuchtung in der metallenen Sitzkonstruktion finde, an der ich Kopf und Rücken anlehnen kann. Bevor sie die Künstler*innen vorstellt, betont die Moderatorin des Künstler*innengesprächs Hyo Lee, dass queere Künstler*innen gar keine andere Wahl haben, als politisch zu sein – wie zeitreisende Feen, die in die Gegenwart aufbrechen, um unrechtmäßig erzählte Geschichten zu zerpflücken. Zu ihr gesellen sich drei Künstler*innen, die ihre Stücke am nächsten Tag zeigen werden. Cibelle Cavalli Bastos plädiert für subjektive Beständigkeit und hinterfragt den Formalismus, der eng mit der Objektivierung aller Menschen verknüpft ist, während Paula Chaves Bonilla davon erzählt, wie schwer es ihr gefallen ist, Kolumbien zu verlassen, und wie hart es ist, eine Vertriebene zu sein. Und wir alle freuen uns mit Markus Pires Mata, der uns mitteilt, dass sein Stück am nächsten Tag seine erste Soloperformance sein wird. Meine Neugier ist geweckt, aber leider habe ich kein Ticket für den nächsten Tag. Wie gewohnt entlässt Hyo uns mit einem Zitat, diesmal von der unvergleichlichen bell hooks:

„The function of art is to do more than tell it like it is – it’s to imagine what is possible.“ – bell hooks, Outlaw Culture: Resisting Representations

 

[1] youtube.com/watch?t=45&v=VHXTWH7nttw&feature=youtu.be.

 

Kenneth Constance Loe (he/they) ist Künstler*in, Autor*in und Performer*in aus Singapur. Er*Sie lebt und arbeitet derzeit in Wien. In seiner*ihrer künstlerischen Praxis beschäftigt er*sie sich mit materiellen und sensorischen Fetischen des Begehrens, queeren Ökologien und anderen abweichenden Ansätzen, indem er*sie Skulptur, Video, Text und olfaktorische Objekte in Performances miteinander kombiniert. Gemeinsam mit Weixin Quek Chong hat er*sie Monzoom.xyz gegründet, eine Online-Plattform für neue künstlerische Praktiken und alternative Bildung, außerdem arbeitet er*sie für die Lazy Library, ein queer-feministisches offenes Bibliotheksprojekt in Wien. @trying_to_be_a_petal

 

 
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