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UNFOLDING INTERIORS

PARASOL Logbook III

 

PARASOL Logbook III

Mit PARASOL – eine Tanzgruppe des TQW haben wir ein hybrides künstlerisches Fortbildungsprojekt, das sich an junge Tänzer*innen richtet, gestartet. Jedes Jahr werden zwei renommierte Choreograf*innen mit einer von ihnen ausgewählten Gruppe von fünf jungen Tänzer*innen je drei Monate ein Stück erarbeiten. Das PARASOL Logbook wird in unregelmäßigen Abständen Einblicke in die Arbeitsprozesse der Gruppe geben. Die Texte von Gianna Virginia Prein und Fotos von Marcella Ruiz-Cruz begleiten die Proben für die Performances mit Ian Kaler im Frühling 2022 und mit Alix Eynaudi im Herbst 2022, dokumentieren und porträtieren aber auch darüber hinaus das Projekt und seine Teilnehmer*innnen: Alex Bailey, Camilla Schielin, Júlia Rúbies Subirós, Shahrzad Nazarpour, Theresa Scheinecker. 

24.09.2022

Jemand liest laut, jemand massiert, jemand bewegt sich, jemand schreibt, jemand liest parallel. Bei einem Dinner erzählt mir Alix, dass die ersten Proben mit den PARASOLs bisher ausschließlich in der Bibliothek stattgefunden haben. Dann wird gewechselt.

07.11.2022

Auf dem Tisch im Studio 3 liegen Bücher aus Alix’ Privatbestand, großteils nach eigenen Verknüpfungen zu familles de livres geordnet. Der PVC-Tanzboden ist bedeckt mit rosa, weißen und semitransparenten Papierblättern Im Schneidersitz, mit angewinkelten Knien oder hockend beugen sich die PARASOL-Tänzer*innen über die in den Proben gemeinsam verfassten Schriftstücke. Sie drehen sie, blättern, ordnen, falzen sie mit den Fingernägeln, halbieren, vierteln und zerreißen sie. Gelegentlich fallen einzelne Wörter zur Wertigkeit ihrer Zusammensetzung, einer Öse, einer Klammer oder Faltung. Die sorgfältige Handarbeit soll erkennbar werden an Details. Keine Wegwerfprodukte. Die Ephemera sollen durch die Veredelung Langlebigkeit erhalten, eventuell in die nächste „Bücherfamilie“ aufgenommen werden. „Würdet ihr das mitnehmen wollen?“ Ich lese die noch nicht editierten Texte, die kreuz und quer gesetzt wurden, sich thematisch überschneiden. Manche Passagen sind sehr intim, geben Emotionen preis oder sind Beobachtungen, andere ähneln Parolen oder konkret poetischen Wortspielen. Ich erahne nur wenige Zugehörigkeiten. Die Credits stehen bewusst weiter weg.

Nachdem die Entscheidungen zur Form der gesammelten Texte gefällt sind, werden die Kostüme angezogen. Die Bewegungsimprovisationen der Probenden werden durch die Titel der Schriftstücke motiviert, die dezent vor ironischer Abgründigkeit, Relativierungen und gesundem Pragmatismus strotzen:

„matters in one way or another“
„parasites in pain“
„rather boring in studious rooms“
„one day, get some money back“
„black ice“
„alibi“

Alix fassoniert die simultanen Soli durch kurzes, präzises Feedback, das die Eigenheiten und die individuellen Zeitlichkeiten der Performer*innen verstärkt. Die textuelle Autor*innenschaft tritt in den Hintergrund, das Spezielle der szenischen Gesamtkomposition wird dafür aber sinnbildlich unterstrichen. Etwas von der Absurdität des alltäglichen Innenlebens zeigt sich, das in den assoziativen Schreibarbeiten der vorherigen Proben zum Ausdruck kam. Schließlich eröffnet Alix: „Let’s build up the piece like this.“

Ich höre das Blättern der Zuschauer*innen in der Zukunft, spüre ihre Suche nach Verbindungen zwischen den poetischen Fragmenten und dem, was auf der Bühne passiert, oder ihre abgeklärt schielenden Blicke zu den Händen um sie herum, die andere Textfragmente halten, ihre Befürchtung, etwas zu verpassen, ihre Erleichterung, etwas verpassen zu dürfen: Und obwohl ich mich frage, was genau das Verhältnis zwischen Tanz und Artefakt ist und wie sehr das handgemachte Booklet-Geschenk wohl das Erlebnis der Aufführung beeinflusst, hätte ich sie gerne alle, wirklich jedes einzelne gefaltete Heft.

 
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