Pedir permiso / Um Erlaubnis bitten
The School of Mountains and Water (Schule der Berge und des Wassers) ist Teil des fortlaufenden Projekts Endangered Human Movements (bedrohte menschliche Bewegungen) von Amanda Piña / nadaproductions, das sich auf Tanz als zeitloses Behältnis menschlichen und nichtmenschlichen Wissens konzentriert. Die Schule, die Piña in einer umherziehenden Open-Air-Performance entfaltet, verwebt Geschichten und Praktiken des Widerstands, die in verschiedenen Weltgegenden gegen ökologische Zerstörung und ausbeuterischen Kapitalismus kämpfen. Dies tut die Schule, indem sie indigenes Wissen darüber versammelt, wie wir uns auf die Natur nicht als ein von uns getrenntes Ding, sondern als jemand, der unsere spirituelle und materielle Existenz bindet, beziehen.
Ich bitte den Berg, das Wasser, die Menschen und die Kreaturen, die an der School of Mountains and Water teilgenommen haben, um Erlaubnis, darüber zu schreiben, was ich in diesen Tagen gesehen, gefühlt und erlebt habe. Ich erhebe meine Hände gegen Osten, den Ort, wo die Sonne aufgeht; gegen Norden, den Ort der wilden Berge, wo der Büffel lebt; gegen Westen, den Ort des Wassers und der farbigen Schlange; gegen Süden, den Ort der*des Krieger*in und des Kolibris; gegen den Himmel mit seinen Konstellationen; und gegen die Erde – Pachamama –, die uns mit ihren Früchten ernährt.
Ich wende mich mit den Performanceteilnehmer*innen in die vier Richtungen, den Instruktionen von Mara’akame Katira folgend, einem Heiler-Älteren und Schamanen der Wixárika-Gemeinschaft von San Andrés Cohamiata in Mexico. Er hat mit Amanda Piña für dieses und andere Projekte eng zusammengearbeitet. Nachdem wir um Erlaubnis gebeten haben, sammeln wir unsere Opfergaben und übergeben sie den Wassern der Schwarza, die unreguliert vor uns dahinfließt. Einige Tage davor sprang ich nackt in dieses kristallklare Wasser, angezogen von den tropenhaften, smaragdenen Reflexionen – die eisige Energie durchströmte meinen ganzen Körper. Wir sind in Kaiserbrunn in der Gebirgsgruppe Rax-Schneeberg, wo das Wiener Trinkwasser herkommt. Im Lauf der Erdgeschichte war hier einmal ein Ozean.
Während unserer Busfahrt zu diesem Ort erfuhren wir etwas über die Geschichte von Wiens erster Hochquellenwasserleitung: Im Jahr 1873 wurde dieses Bauvorhaben von Franz Joseph I. eröffnet. Ziel war, die von verseuchtem Grundwasser verursachten Ausbrüche von Epidemien einzudämmen. Es waren italienische Migrant*innen, die – unter beklagenswerten Arbeitsbedingungen – in nur drei Jahren die Leitung errichteten. Da ich selbst eine italienische Migrant*innen-Arbeiterin bin, denke ich über die gänzlich anderen Umstände nach, die mich hierhergebracht haben, und die privilegierte Lage, in der ich mich befinde – zurückgelehnt in einem bequemen Autobussitz mit geräuschunterdrückenden Kopfhörern. „Beobachte mit voller Aufmerksamkeit – du wirst erkennen, dass alles, was existiert, aus dem Inneren eines Berges kommt: Menschen, Pflanzen, Wasser, Technologie, Flugzeuge, Licht, Elektrizität …“, sogar dieser Bus mit uns darin. Als wir uns der Wasserquelle nähern, werden wir eingeladen, unsere koloniale Beziehung zum Berg aufzulösen: Unsere eigenen Körper sind aus Erde gemacht – und hängen von ihr ab. (Wie kümmert man sich um etwas, das wir nicht sehen können, versteckt unter Schichten aus Erdreich und Kalkstein?)
Ziel der Schule ist, unser Denken zu grundieren – wörtlich wie auch metaphorisch. „Gegen die koloniale Abstraktion der Kunst“, sagte Amanda Piña zur Einführung. Wir land-en. Werden boden-ständig. Wir sind ein vornehmlich weißes Publikum.[1] Während wir zur ersten Station gehen, frage ich mich, ob die Gruppe, deren Teil ich bin, imstande sein wird, sich anderen Arten des Wissens und Seins mit dem mehr als Menschlichen zu öffnen, oder ob die westlichen analytischen Paradigmen und der exotisierende Blick Bestand haben werden … Kulturelle Kollisionen oder „choques“, wie Gloria Anzaldúa – der Umweltjournalistin Camila Nobrega zufolge – sie nennt, sind unausweichlich, wenn für gewöhnlich unvereinbare Referenzrahmen aufeinandertreffen. Aber „choques“ sind notwendig für die Begegnungen der vielen nebeneinander existierenden Welten, von denen wir Teil sind – gegen die Erschaffung einer einzigen Geschichte, einer einzigen Welt. Wir leben im Pluriversum, weben unterschiedliche Fäden in denselben Stoff.
Ein steiler Abhang sättigt unsere Augen wie ein grünes Füllhorn. Vier Gestalten stehen auf der rechten Seite in einer Reihe und schauen hinauf zu etwas, das wir noch nicht sehen können. Sie halten Trommeln, Zimbeln und eine Flöte. Dämpfe von glosendem Kopalharz strömen aus einer kelchförmigen Räucherschale: Das Ritual hat bereits begonnen. Ruf und Antwort der Flöten. Eine verzauberte Kreatur wird hinter dem Gehölz beschworen. Die Vier steigen langsam zu uns herab. Hirschgeweihe, runder grüner Stamm und rote Pfoten. Tier. Pflanze. Oder Erdwesen. Ich erinnere mich an Katiras Worte, dass die hochgelegenen Orte jene sind, wo die Geister leben – Berge sind Tempel. Als der Hirsch hinter dem Felsen verschwindet, bewegen sich drei Trommler*innen zur Mitte der Bühne, in rhythmischer Formation energisch auf ihre Instrumente schlagend. Und Stille. Die Musik hat den Schamanen erweckt, der als transfigurierter Hirsch aus dem Felsen kommt. Er spielt eine kleine Violine und singt in seiner Sprache die Geschichte von Wirikuta: Jedes Jahr gehen die Wixárika auf Pilgerschaft zu diesem heiligen Ort, um das Land, ihre Ursprungsgeschichte und die Pflanze Híkuri (auch als Peyote bekannt) zu ehren. Híkuri ist „das Buch des Wissens“, das sie zeremoniell ernten und verzehren, und Wirikuta ist seine Bibliothek, die derzeit durch Projekte einer kanadischen Bergbaugesellschaft bedroht ist.
Mara’akame bringt uns zurück zu einer Quelle am Waldrand. „Agua para mí – Agua para ti – agua para el mundo – agua para todos …“ Das Lied animiert uns, unsere Flaschen mit frischem Quellwasser zu füllen und jede*r ein paar Maiskörner, Schokolade, Kaffee und Zucker zu nehmen, um sie als gemeinsames Opfer an die Natur zu teilen: Die Teilnehmer*innen verteilen ihre Gaben auf vier aus Holzspänen und Blumen gestalteten Tellern. Wir gehen mit unseren Opfergaben und bleiben auf einer Wiese stehen, auf der vier Performer*innen – schwarz gekleidet, mit farbigen, als glänzende Bänder verkleideten Flügeln – einen aztekischen Tanz der Erlaubnis in die vier Himmelsrichtungen vollführen. Der Drang, zum Rhythmus der Maracas und der Trommelschläge zu tanzen, ist unwiderstehlich. Der Tanz wiederholt sich in einer weißen, steinigen Bucht, die wir nach einem kurzen Abstieg erreichen – das sanfte Mäandern des Flusses erzeugt ein seeartiges Becken. Wir bieten unsere Opfergaben an. Als ich die zerquetschte Schokolade auf meinen Fingerspitzen rieche, fühle ich die Freude des Gebens, ohne eine Gegengabe zu erwarten. Ich fühle, dass ich mit dem Fluss, der sanft meine Gegenwart aufnimmt, Liebe mache.
Von der höchsten Stelle einer Brücke erlangen wir Sicht auf ein Spektakel, das uns wie in einem Aquarium erscheint: Dunkle Meereskreaturen, Seeigeln ähnlich, kriechen den Strand hinauf und bilden einen sternförmigen Organismus. Der Fluss windet sich und tanzt mit ihnen. Sich in symmetrischen, synchronen Bewegungen zusammenziehend und pulsierend bewegen sie sich in endlosen Spiralen, bis wir sie aus den Augen verlieren. Perfektion ist Kommunion. Sie ist Gemeinsamkeit, Mit-Sein. Als wir dem Flussbett von der Höhe des Waldpfades aus folgen, empfängt uns der Klang eines Xylophons: Der wertvollste Wassertropfen schwingt mit. Yemanjá, Chalchiuhtlicue oder Mami Wata – die blaue Avatara des göttlichen Wassers – zeigt sich, den Fluss entlangschlängelnd. Ihre langsamen, hypnotischen Bewegungen zu beobachten ist eine Meditation für die Seele. Ihren Schlangenkopf hinabneigend hält sie manchmal inne, um zu atmen – und dann ihren nassen Weg ungestört fortzusetzen. Der Klang von Rasseln erregt unsere Aufmerksamkeit: Der Hirsch ruft uns, ihnen zur letzten Station zu folgen. Mächtige Göttin, wir lassen dich ziehen. Axé.
Wir folgen dem verschlungenen Pfad, der mit wie Venen auf den Handrücken alter Menschen aus dem Boden auftauchenden Wurzeln unter unseren Füßen pulsiert. Wir erreichen eine Höhle – Tropfen rieseln von den Sedimenten über uns. Weißes Rauschen. Das Rauschen von Mineralien, die sich unbemerkt im Untergrund bewegen. Sie ziehen einander magnetisch an, umarmen ihre aus Gold und Silber gemachten Herzen. (Wie tanzen Felsen?) Ohne Worte sprechen sie zu uns: „Wir sind nicht verkäuflich. Wir dienen nicht dem Profit. Wir sind ihr, eure Mütter, eure Töchter, eure Schwestern. Wir sind nicht anders.“ Der Berg ruft uns – könnt ihr es nicht hören? Stimmt euch auf sein angestammtes Wissen ein. Lasst die Lehren der Moderne hinter euch – die Technologie des Tanzes kann euch leiten. Freundet euch mit uns an. Seid mit uns. Seid-mit.
[1] Weiß bezieht sich in diesem Kontext nicht auf die Hautfarbe, sondern verweist im dekolonialen Denken auf eine unbenannte und unbezeichnete Haltung, die sich selbst (d.h. westliche Ontologien und Epistemologien) als universal annimmt.“
Giulia Casalini ist eine in London ansässige, unabhängige und transnational arbeitende Kuratorin, Künstlerin und Forscherin. Sie ist von Technē geförderte PhD-Kandidatin an der Universität von Roehampton. Ihre Forschung widmet sich der Analyse queer-feministischer Live Art aus aller Welt im Bestreben, euro-anglo-amerikanische ästhetische Kanons und Diskurse zu dezentralisieren.
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