TQW Magazin
Rolando Vázquez über The Jaguar and the Snake von Amanda Piña / nadaproductions

Präzedenz, Tanz und das Kontemporäre

 

Präzedenz, Tanz und das Kontemporäre

“The deer is our teacher, our bible, our library.”[1]

 

Tierkörper starren uns aus der unendlichen Tiefe des Spiegels an, wir erleben Körper im Modus des Zuhörens; den Ältesten, den weisen Lehrer*innen, den Tieren lauschend. Wir befinden uns in der School of the Jaguar von Amanda Piñas Langzeitprojekt „Endangered Human Movements“ (gefährdete menschliche Bewegungen). Hier verkörpert das Tier die Ältesten, die Ahnen, nicht den*die*das Fremde*n im Vergleich zu einer Person oder bloß einen Gefährten. Diese präzendenziale Animalität[2] fordert uns dazu auf, uns daran zu erinnern, wer wir sind. Der Tanz in The Jaguar and the Snake bietet uns die Möglichkeit, aus unserer Subjektivität als Zuschauer*innen herauszutreten. Er bietet uns die Möglichkeit, in ein plurales Selbst des Gedenkens einzutauchen, zu Zeugnis ablegenden Subjekten (testimonial subjects) zu werden, um mit den Worten von Rana Hamadeh[3] zu sprechen, und die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, nicht eins zu sein. Sind wir in der Lage, der Multiplikation der Einzelperson zu lauschen, die uns die Epistemologie und Aisthesis der Wixáritari lehren? Können wir dem Schamanismus als einer „Übung im nicht eins sein“[4] Gehör schenken? Können wir diesem Wissen und dieser Aisthesis nicht als einem mythischen Glauben zuhören, sondern als etwas, das die Möglichkeit in sich birgt, aus unserem Gefangensein in der amnesischen Oberflächlichkeit der modernen Individualität herauszutreten? Können wir unser Zuschauer*innen(da)sein in der modernen Welt der Repräsentation und Weltkünstlichkeit (world-artifice) verlernen? Das Erinnern, das Wiederverbinden mit unseren Erdenkörpern, unseren Tierkörpern, unseren Ahnenkörpern eröffnet uns einen Weg außerhalb unseres amnesischen Zustands als Individuen, als Konsument*innen, als Zuschauer*innen. Es eröffnet uns einen Horizont jenseits der Oberflächlichkeit der Immanenz. Wenn wir zuhören[5], beginnen wir zu spüren, was mit uns passiert ist aufgrund der Tatsache, dass wir nicht mehr viele sind, angesichts unserer Entwurzelung, unserer Ent-innerung, unserer Zer-stückelung, unserer Verwandlung in Waisen der Erde.

Die tierischen Bewegungen tauchen in ihrer tiefen Zeitlichkeit von der anderen Seite der kolonialen Differenz aus wieder auf, welche zuerst von der „Pose des Konquistadors“ bewacht wurde und noch immer vom temporalen Normativ des Kontemporären aufrechterhalten wird. In ihrer Auseinandersetzung mit der spanischen Abhandlung über den Tanz von Juan de Esquivel Navarro aus dem Jahr 1642 versinnbildlicht Nicole Haitzinger die „Pose des Konquistadors“ als Pose des souveränen Ichs. Diese Pose fungierte als Norm, als Grundposition im westlichen Tanz der Kolonialzeit. Haitzinger zeigt auf, wie sich die souveräne Position in ihrer Stabilität und „Gewaltbereitschaft“, in ihrem „(ziel-)gerichteten Blick“ und in ihrem Erscheinungsbild als „gefühlsentleert“ manifestiert.[6] Die „Pose des Konquistadors“ als Darstellung des souveränen Subjekts kann als Prototyp verstanden werden, der den Grundstein für das moderne Konsument*innen-Subjekt der heutigen Zeit gelegt hat, also ein Subjekt, welches sich selbst für die Darstellung der Souveränität des Selbst, der Individualität einsetzen muss. Das Model des*der Konsument*in ist das eines Individuums, das eine „einzigartige“ Identität darstellt und deren Macht, Träume und Genüsse unter Bedingungen der Trägheit ausübt, das heißt „gefühlsentleert“ in Bezug auf die Ausbeutung und das Elend anderer und des Verkümmerns des Erdkörpers. Der*die Konsument*in, das souveräne Individuum, ist darauf beschränkt, auf der Oberfläche des Kontemporären, im Jetzt der Repräsentation zu leben. Für sie ist das Universum des Realen, der Bereich des Erfahrbaren auf die Oberflächlichkeit des Jetzt, auf die leere Zeit der Moderne reduziert.

In The Jaguar and the Snake ist die Disposition der Körper keine Choreografie von Posen, die Tiere repräsentieren. Vielmehr erscheint die Bewegung als präzendenziale Verbalität – Tanz als Wiedererinnerung, als erneutes Auftauchen der Erdwesen[7], unserer Ahnen. Die Vorstellung von Bewegung als Repräsentation im Raum wird ersetzt durch eine vom Körper als Verbalität, von der Verkörperung von Zeit, von einem gedenkenden Körper, der in die tiefe Gegenwart hineinleuchtet.

„Bewegung“, so Amanda Piña, „ist auftauchend und ‚sie macht‘ den Bewegenden. [Sie ist] kein Objekt […]. [Die] ‚Bewegung macht mich‘, [d. h.] der*die Tänzer*in wird bewegt, ausgeführt von der Bewegung, […] verändert durch die Bewegung in Tonus, Empfindung und Wahrnehmung.“[8]

Bewegung ist hier die Praxis des Erinnerns, des Wiederauftauchens des Gedenkens. Unter den Psychologismen unserer individualisierten Erinnerungen liegt die radikale Pluralität der Zeit, wo Erinnerung über die Grenzen von Form und Repräsentation, des Menschlichen und des Selbst hinausgeht. Die mnemonische Bewegung der Tiere, unserer Ahnen, unseres Selbst kann durch das Jetzt des Kontemporären weder umgangen noch auf den Bereich der Abstraktion reduziert werden. Sie bewahrt ihre Undurchsichtigkeit als Zeugnis der radikalen Vielfalt der Vermächtnisse der Erde, die seit jeher über das epistemologische und aisthetische Territorium der Moderne hinausreichen.

 

Rolando Vázquez

ist Dozent für Soziologie am University College Roosevelt und freier Forscher am Institut für Gender Studies und Cultural Inquiry (ICON) der Fakultät für Geisteswissenschaften Universität Utrecht. Die letzten zehn Jahre hat er gemeinsam mit Walter Mignolo die Decolonial Summer School am UCR koordiniert. Mit seiner Arbeit will er Praktiken des Denkens und Lernens entwickeln, die die vorherrschenden Rahmenbedingungen von Zeitgenossenschaft, Heteronormativität und Kolonialität hinter sich lassen.

 

[1]  Juan José Ramirez, The Jaguar Talks, Tanzquartier Wien (2019).
[2] Zur Frage der „Präzedenz“ s. Rolando Vázquez, Precedence, Earth and the Anthropocene: Decolonizing Design. Design Philosophy Papers, DOI: 10.1080/14487136.2017.1303130 (2017).
[3] Rolando Vázquez und Rana Hamadeh, Conversation, in Lafayette Anticipations, Le centre ne peut tenir, Lafayette Anticipations, Paris 2019.
[4] Johannes Neurath, Mehr als eins sein: Komplexe Identitäten in der indigenen Moderne, in Amanda Piña, Angela Vadori, Christina Gillinger-Correa Vivar (Hg.), Endangered Human Movements Vol. 3 – The School of the Jaguar, Wien 2019, S. 121.
[5] Rolando Vázquez, Decolonial Listening (Interview von Zoë Dankert), Soapbox 1.1 2019.
[6] Nicole Haitzinger, Im Spiegel der Pose des Konquistadors: Kentaur sein und Jaguar werden, in Piña, Vadori, Gillinger-Correa Vivar (Hg.) 2019, S. 191ff.
[7] Zum andischen Konzept der Erdwesen s. Marisol de la Cadena, Earth beings: Ecologies of practice across Andean worlds, Durham, NC 2015.
[8] Amanda Piña, Gedanken zu einer Praxis der „Kompossession“ in Piña, Vadori, Gillinger-Correa Vivar (Hg.) 2019, S. 283ff.

 

Übersetzung aus dem Englischen: Caroline Wellner
Überarbeitung der deutschen Übersetzung: Dustin Gordan.

 

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