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A little bit further down and to the side

Responses to TQW Winter School

Responses to TQW Winter School

Die Doktorand*innen des Kollegs „Wissenschaft und Kunst“ (Universität Mozarteum, Paris-Lodron Universität Salzburg) Martina Fladerer, Marcel J. V. Kieslich, Anna Maria Stadler und Ivana Pilić besuchten die TQW Winter School A little bit further down and to the side als teilnehmende Beobachter*innen und reagieren mit kurzen Texten.

Social Protesting von Marcel J. V. Kieslich

Mit jeder politischen Bewegung entstehen neue Bilder, die lokale und globale Räume besetzen. Der Protest ist eine experimentelle Form des Widerstandes; eine öffentliche Kundgebung spekulativer Gesten. Im Aktivismus bewegen sich protestierende Körper „against the business as usual“. Sie begehen Felder, auf denen sie nicht erwartet wurden. Es werden blinde Stellen offengelegt. Aber welche Rolle spielt dabei die Sozietät? In erster Linie sind es Gesten des Respekts, die Intimität publik werden lassen. Händehalten ist so eine Politik der Zuneigung, die das Soziale demonstriert, indem sie öffnet – nur offene Hände können andere halten. Bei dieser Haltung werden eigene Grenzen überschritten. „Protesting the Social“ untergräbt die menschliche Hybris; statt nach oben zu blicken, greifen haltende Hände zur Seite und machen den Weg frei für andere.
Im Alltag greifen sie nach Werkzeugen. Sie schreiben und erheben die Stimme, wenn gesprochen wird. Beim Reden und Diskutieren malen sie unsichtbare Bilder in die Luft. Sie verkleiden, während sie selbst nackt bleiben. Welche Sprache sprechen sie? Sie machen – Krach; sind laut: die Stimmen der Stimmlosen. Sie zeugen Kon-Takt, indem sie Rhythmen in die Welt setzen. „Die Linke kommt vom Herzen.“ Aber welche Rolle spielt diese Binarität, wenn sie ungeschmückt Fremden gereicht werden, um gehalten zu werden?
Offene Flächen schaffen ein Einssein. Halten ohne Besitzansprüche für eine Kultur, die nicht entfremdet werden kann. Im Händehalten werden Hände zu Häfen, die aufnehmen und abgeben, ohne einzugreifen und festzuhalten. Entleerung ist eine selbstbestimmte Form der Potenzierung, wohingegen leere Häfen ökonomisch fremdbestimmt bleiben. Demonstratives Händehalten vermeidet kapitalistische Gesten. Vereinte Hände sind ungewohnte, ethisch-ästhetische Gesten, die sich asozialen Machtstrukturen zur Wehr setzen; eine nonverbale Praktik, die dem Streit entgegengeht; eine gewaltfreie Konfrontation, die miteinander solidarisiert.
Der individuelle Fingerabdruck spielt keine Rolle mehr, wenn wir uns gegenseitig halten. Die haltende Bewegung ist ein politisches Kastrationswerkzeug gegen Strukturen, die uns einschränken. Wir müssen Tatwaffen aus der Hand legen und nichts wollen außer Wohlwollen, soll das Miteinander gelingen.

GRENZEN. Über Proteste, Ein- und Ausschlüsse von Martina Fladerer & Anna Maria Stadler

How to start a revolution (mit performativen Mitteln)? Diese Frage ist seit 2019 für Studierende an den beiden großen Kunstuniversitäten in Ungarn sowie den anderen vormals staatlichen Universitäten keine fiktive Frage mehr, die aus sicherem Abstand gestellt wird. Es ist eine Frage, die für ungarische Studierende und Lehrende – zumindest bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie – verknüpft war mit der Hoffnung, dass freies Lernen und Lehren, freies Denken und künstlerisches Tun in Ungarn weiterhin möglich sein kann. Denn unter dem neoliberalen Deckmantel der Wettbewerbsfähigkeit und Effizienz wurden unter der rechtsnationalen Regierung von Viktor Orbán die Aufgaben des Ministeriums in Bezug auf die Kunstuniversitäten von einer privaten Stiftung übernommen.  Gebäude und Vermögenswerte gingen von öffentlicher Hand in den Besitz dieser Privatstiftungen über, die allesamt mit politisch Gleichgesinnten besetzt wurden. Der befürchteten geistigen Gleichschaltung setzten die Studierenden der renommierten Universität für Theater- und Filmkunst (SZFE) die Besetzung der Hochschule und massive Protest entgegen – Proteste, die mit performativen Mitteln des Theaters und der Kunst spielten: „We did not shout but protest with opera, dance and applied theatre methods.“ (Kinga Szemessy)

Der im Rahmen der Winter School stattfindende Workshop Inside unter der Leitung von Kinga Szemessy und Domokos Kovács – beide involviert in die Protestbewegung #freeSZFE – hatte zum Ziel, diese Proteste genauer zu untersuchen und zu dekonstruieren. Wie können wir die eigenen Grenzen fühlen, uns gegenseitig zu Grenzüberschreitungen einladen und wahrnehmen, wann Begegnungen zu Invasionen werden? Wie reagieren wir auf das ungute Gefühl, dass Grenzen zu unserem Nachteil neu gezogen werden? Wie kann der Körper Grenzen ziehen, und wie können uns Grenzen dienen? Wie lange sollen wir sein Territorium bewachen: die neugeborene Organisation und uns, ihre Organe? Diese Fragen näherten wir uns in dem Workshop durch diverse theaterpädagogische Übungen uns setzten unseren Körper ins Verhältnis zu den anderen im Raum versammelten Körpern.

Indem die #freeSZFE-Bewegung, wie erwähnt, auf performative Mittel zurückgriff, erzielten sie große Aufmerksamkeit. So war Teil des inszenierten Protestes, dass Wächter*innen rund um die Uhr die Universität bewachten. Partizipatorische Performances wie Menschenketten erzeugten bei der Budapester Bevölkerung ein Gefühl des Teil-Sein-Wollens: „There was always something going on.“ (Kinga Szemessy) Zentrales Organ der Proteste #freeSZFE war das „Forum“, ein Versammlungsorgan, bei dem alle Studierenden und Lehrenden, die sich der Universitätsbesetzung angeschlossen hatten, teilnahmen. Die zentrale Frage: What is our next move? Dazu bedienten sie sich den Regeln des somatischen Aktivismus. Dazu gehört u. a. die Verwendung von Diskussionshandzeichen, wie sie auch von Klimaprotestbewegungen eingesetzt werden (zum Beispiel bei Klimacamps). Den Abschluss des Workshops bildete die konkrete Anwendung dieser Tools, ausgehend von einem fiktiven zukünftigen Fall: Inwiefern ein in Kürze im Parlament zur Abstimmung eingebrachter Gesetzesvorschlag, nach dem bei der nächsten Bevölkerungszählung auch Körper- und Gesundheitsdaten erfasst werden dürfen, eine Bedrohung darstellt und inwiefern deswegen Handlungsbedarf besteht. Diese Übung für den Ernstfall machte bewusst, wie schnell Fiktion zur Wirklichkeit werden kann, wie wichtig das Choreografieren des Protestes ist und welches Potential überhaupt den performativen Künsten innewohnt, wenn es darum geht, Grenzen zu ziehen gegen antidemokratische Bestrebungen, Verbindungen unter Verbündeten zu schaffen und einen Protest lebendig zu erhalten.

Tag drei – und damit auch die gesamte Winter School – schloss mit der Lecture-Performance Dance immemorial von Ulduz Ahmadzadeh und Maria Vlachou. Maria Vlachou begann an einem Pult zu sprechen, über die Frage danach, welche Formen des Tanzes als „zeitgenössisch“ aufgefasst werden, und wo eine Zuschreibung solcher Art sich querlegt. Wovon grenzt sich diese Festsetzung ab, und zu welchem Zweck. Und dann setzte der Tanz ein. Im Hintergrund eine Projektion eines Tanzes aus dem iranischen Hochland – ein Mann, wie er bedächtig Bewegungen in einer kargen Landschaft ausführt – und dann, mit etwas Verzögerung setzte Ulduz Ahmadzadeh ein. Bewegte sich im Raum, vor der weiterlaufenden Projektion, auf eine Weise, die an die Gesten und Bewegungen des Mannes anschloss. Die Formen des Tanzes, die durch die Setzung „zeitgenössisch“ ausgeschlossen werden, werden solcherart zu Objekten der Klassifizierung. Ihnen wird eine folkloristische Nostalgie eingeschrieben, sie werden als ethnografische Exponate in touristischer Manier konsumiert. Indem sich Ulduz Ahmadzadeh und Maria Vlachou Tänzen und Ritualen zuwandten, die im iranischen Hochland seit vorislamischer Zeit vorzufinden sind – wie etwa Sama سما, Hatan هتن, Afar آفر und Ghare Pire Zhan قره پیره ژن – legten sie den Fokus nicht auf die Verschiebungen zwischen „zeitgenössischen“ und „ursprünglichen“ Tänzen. Diese Differenzierung wurde insbesondere durch die tänzerische Annäherung Ulduz Ahmadzadeh unterwandert. Der Fokus lag nicht auf den Abweichungen ihrer Bewegungen von jenen des iranischen Tänzers im Hintergrund. Es entstand ein Zusammenspiel der Bewegung der Tänzerin im Raum und jenen des projizierten Tänzers im iranischen Hochland, das ein Zusammendenken dieser näher legte als eine Abgrenzung. Wie zwei Layers legten sich diese räumlich und zeitlich unterschiedlichen Momente übereinander, verschwammen zu einem gemeinsamen Bild.

Gestures of intervening von Martina Fladerer & Anna Maria Stadler

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