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Daniel Aschwanden über DANZA Y FRONTERA Endangered Human Movements Vol. 4 von Amanda Piña / nadaproductions

Riss und Grenze: DANZA Y FRONTERA

 

Riss und Grenze: DANZA Y FRONTERA

Ich bin im Theater und ich habe Zeit – ich betrachte Körper, Körper, die von der Straße kommen, Körper, die wandern, Körper, die sich über eine die Weite der Bühne füllende Sandfläche bewegen, die von Wüste erzählt, Körper, die schleichen, die erschöpft fallen und sterben – es sind reale Körper, in der Fiktion des Theaters. Sie erheben sich wieder, verschwinden, sterben einen nächsten Tod.

Wann wird ein Schritt Tanz? Wie tanzen Körper? Wie treten sie auf? Es gibt die Körper, die schräg und verdreht, wie knorrige Bäume auftreten, es gibt jene, deren Füße zärtlich den Boden zu liebkosen scheinen mit jedem Schritt, es gibt jene, deren Körper mit jeder Faser Tanz verkörpert, andere, die steif Fuß vor Fuß setzen.

Zur suggestiven und eindringlichen Musik von Christian Müller nähern sich die Gestalten. Es hat etwas Gespenstisches, erinnert entfernt an den Gang von Zombies. Es sind die Gestalten von Jahrhunderten, in die sich ein Rhythmus eingeschrieben hat, ein Tanz, ein Tanz der Unterwerfung, der Kolonialisierung.

Draußen vor dem Museumsquartier, in dem sich das Theater befindet, ist ein Demonstrationszug gegen die aktuelle Regierung vorbeigezogen. Es ist Donnerstag, und vor einer Woche wurde die Tradition der wöchentlichen Demos, die anlässlich der schwarz-blauen Koalition in der Vergangenheit initiiert worden war, wiederbelebt. Aktivist*innen mobilisieren gegen den Zynismus einer Regierung, die etwa den kolonialen Gedanken der Festung Europa auch ohne drängenden Grund in einer teuren propagandistischen Polizeiübung medienwirksam an der Landesgrenze zelebrieren lässt. Die Grenze zwischen „UNS“ und „JENEN“, die Grenze, die scharf trennt, die eine Nation postuliert und einen nationalen Körper, der so gar nicht existiert. Die Grenze, die die Dichotomie eines „hegemonialen WIR und eines minderwertigen SIE“ in neokolonialer Weise als eine fragwürdige Identitätspolitik festzuschreiben sucht.

Auf der Bühne tragen die Menschen ihre Körper unablässig gegen die Front, strömen, gehen und vergehen. Im klassischen Theater entspricht diese Front der sogenannten vierten Wand, die hier durch eine dünne Gaze markiert wird und eine zarte Vergegenständlichung derselben darstellt. Sie wirkt unscheinbar, aber sie ist wuchtig durch die Bedeutung, die sie in diesem Kontext einnimmt. Sie symbolisiert eine reale Grenze, in diesem Fall diejenige zwischen den USA und Mexiko, „frontera“ auf Spanisch. Im Theater ist diese Grenze fiktional. Es wäre ein Leichtes, sie einzureißen. Von beiden Seiten: von der Seite der Bühnenakteur*innen und vom fiktiven Außen der Blickenden. Sie gewinnt ihre Wucht, indem sie für die Mauer steht, die derzeit unter Präsident Trump auf- und ausgebaut wird, und zugleich für alle anderen imperialen Grenzmauern, die weltweit hochgezogen wurden und werden. In ihrer (theatralen) Durchlässigkeit und Unscheinbarkeit steht sie für die Unsichtbarkeit, mit der sie oftmals als Konvention im Bewusstsein der Betroffenen festgeschrieben ist.

Ich befinde mich im Borderland, im Grenzland, als Beobachter. „Borderlands La Frontera“ ist der Titel eines für dieses Stück grundlegenden Buches der früh verstorbenen Chicana-Autorin Gloria Anzaldúa.

“The term Borderlands, according to Anzaldúa, refers to the geographical area that is most susceptible to la mezcla [hybridity], neither fully of Mexico nor fully of the United States. She also used this term to identify a growing population that cannot distinguish these invisible ‘borders’, who instead have learned to become a part of both worlds, worlds whose cultural expectations they are still expected to abide by.[1]

Fragmente ihres Textes, weiß projiziert auf die schwarze Gaze, holen mich in die Gegenwart der Auseinandersetzung:

A borderland is a vague and undetermined place created by the emotional reissue of an unnatural boundary. It is a constant state of transition. The prohibited and forbidden are its inhabitants. Los atravesados live here: the squint-eyed, the perverse, the queer, the troublesome, the mongrel, the mulato, the half-breed, the half dead; in short, those who cross over, pass over, or go through the confines of the normal“.[2]

Theater als Aufklärungsmaschine. Der Sand, ich weiß, könnte auch Wasser sein.

Die vereinzelt und suggestiv zur Front Strömenden tragen nun fantastisch anmutende Elemente historischer Kostüme, die in grellem Gegensatz zur Uniform der Markensportschuhe und Baseballkappen stehen, die sie als Teil einer globalen, durch Konsum verwestlichten Masse markieren. Drängender wird der Rhythmus, tänzerischer die Schritte und Bewegungen.

The european borders of the ancient world
defined by the Mediterranean Sea
had been transatlantically shifted
towards a new world
where we Indians,
like the Arabs,
dark skinned,
are infidels,
dangerous,
inferior,
therefore losers.
This narrative is imposed
through danced reenactment.[3]

Konkret liegt Amanda Piñas Stück Danza y Frontera (Tanz und Grenze), das in den konzeptuellen Rahmen der Serie „Endangered Human Movements“ eingebettet ist, eine zeitgenössische Legende zugrunde. Es ist die Legende von Rodrigo de la Torre, einem Folktanzlehrer, und einer Gruppe von befreundeten Kids zwischen 14 und 15 Jahren aus dem Bezirk El Ejido Veinte von Matamoros, einer Grenzstadt in Tamaulipas, Mexiko. Sie tauschten eines Tages ihre traditionellen Ledersandalen gegen Nikes und tanzten die popkulturelle Appropriation eines historischen Tanzes im öffentlichen Raum. Sie wurden zum Zeichen einer widerständigen Jugendkultur, die sich sowohl gegen eine folkloristisch dominierte Tanztradition richtete als auch gegen die übermächtige Gewalt der Drogenhändler und wenigstens temporär wieder ein Stück öffentlichen Raum zurückeroberte. Der Tanz wurde über Videos in den Social Media verbreitet und beiderseits der Grenze getanzt, Hip-Hop-Musiker machten Songs darüber …

Es ist das Narrativ einer WENDUNG, eines Hacks, einer Wiederaneignung. Es ist ein Statement für Resilienz, ein Statement des Aufbruchs, das die Choreografin mit einer Widmung versehen hat:

Diese Arbeit ist denjenigen gewidmet, die den Mut haben, sich zu bewegen, zu denen, deren Körper Grenzen tragen.[4]

In seinem Buch „Die Verdammten der Erde“ (1961), das zu einem der Schlüsselwerke postkolonialer Theorie wurde, beschrieb der Psychiater und Philosoph Frantz Fanon die ideologische Essenz des Kolonialismus als zutiefst destruktiv, indem dieser den Kolonisierten systematisch alle Attribute des Humanen abspricht. Diese Dehumanisierung wird mit physischer und mentaler Gewalt betrieben.

Im Theater wurde die Grenze, die vierte Wand, ästhetisch längst eingerissen. Dass sie hier wieder errichtet wird, spricht über die symbolische Grenze, die eingeschriebene Grenze, die koloniale Grenze, die sich – wie ein Riss – vor den Körpern erhebt, so wie sich die Wand des Trump’schen Amerika gegen Mexiko hin erhebt, wie sich die europäische Festung gegen Süden und Osten erhebt. Die Grenze, der Riss zieht sich durch die Körper, und Amanda Piña mit ihrer großartigen Truppe von Performer*innen hybrider Identitäten hat sich gemeinsam mit Rodrigo de la Torre dem Unterfangen verschrieben, diesen Riss, den sie ebenso wie ihre Mitstreiter*innen aus autobiografischer Erfahrung kennt, auf die Bühne zu bringen.

Als konkrete Tanzanalyse kann ein weiteres Gedichtfragment verstanden werden:

At the end of the war with the Islamic Moors
in the Iberian peninsula,
a dance called Danza de Moros y Cristianos
was born,
to exemplify the defeat of the muslim africans
at the hands of the christian europeans.
During the conquest of America in the 16th century, under the reign of the Habsburg emperor Charles V. la Danza de Moros y Cristianos
travels by ship to the new continent.
In those so called Conquest Dances the infidel Moor is replaced by the infidel Indian,
who must perform the defeated Arab thus performing their own defeat.[5]

Ich nehme Piñas Vorschlag als das Angebot eines dritten Raumes im Sinne des indischen Postkolonialismustheoretikers Homi K. Bhabha wahr. Es ist ein Übersetzungsversuch, der die Hybridität kultureller Differenz zeigt – im Gegensatz zu traditionellem, essenzialistischem Kulturverständnis.

Amanda Piña setzt eine große theatrale Geste, um (auch ihre) biografisch codierten Erfahrungen mit westlichem Suprematismus zu artikulieren. Sie hat den Versuch gestartet, prozesshaft performativ-tänzerisches Schaffen zu wesentlichen Aussagen zu verdichten und räumlich in ein zentralperspektivisch funktionierendes Display zu übersetzen. Es ist nach langjähriger Kollaboration mit dem kongenialen Partner Daniel Zimmermann, während der gemeinsam eine Formensprache entwickelt wurde, die erste Arbeit, die sie allein signiert.

Im choreografischen Ansatz der Entschleunigung sehe ich diese Umsetzung sehr gelungen: Sie schafft Zeit und damit Raum für Wahrnehmung, Denken, Spüren. In der langsamen Progression der Geschwindigkeit und der Eindringlichkeit der Körper im Tanz resonieren indigene Praktiken, koloniale Narrative, Popkultur und Spiritualität als Ausdruck von Widerständigkeit.

Politisch betrachtet bringt sie mit dieser Geste drängende Fragen der Destruktivität von Neokapitalismus, Kolonialität einem breiteren Publikum näher.

Jede Übersetzung produziert einen Verlust und einen Gewinn, ein „lost“ und ein „found in translation“. Im Falle von Danza y Frontera ist dieser Gewinn sowohl die lebendige Sichtbarmachung des Leidens betroffener Körper als auch diejenige einer Resilienz mit den Mitteln des Tanzes. Der Verlust ist vielleicht in der Gefahr der Überästhetisierung einer Problematik zu sehen. Wir, und gerade wir als westliche Subjekte, sind aufgefordert, geistig unsere zentrale Perspektive, der auch diejenige des frontalen Theaters entspricht, zu verlassen, die Theatermaschine mit dem Blick der Dekonstruktion zu betrachten, als Modell in diesem Fall. Wenn – und es ist ein fantastischer Moment in diesem Stück – der Trommler Edgar Uriel Soria seinen rasenden Rhythmus plötzlich vor der dünnen Gaze (und damit überschreitet er diese Grenze) in den Raum donnert, sind wir aufgefordert, uns zu bewegen, uns mit der Straße auseinanderzusetzen. Wir sind aufgefordert, die Grenze, die sich als Riss durch unsere eigenen Köpfe und Herzen zieht, zu betrachten und uns der Komplexität, den Umständen einer weltumspannenden Maschinerie von Produktion, Ausbeutung und ungleicher Verteilung zu stellen. Wir sind eingeladen, uns mit den Theorien des Postkolonialismus und der dekolonialen Theorie auseinanderzusetzen: mit den Arbeiten von Theoretiker*innen wie Frantz Fanon, Edward Said, Gayatry Chakravorty Spivak, Homi K. Bhabha, Walter D. Mignolo, Marisol de la Cadena, Rolando Vázquez u. a. Sie können uns intellektuelle Instrumente zur Verfügung stellen, um die Bilder zu decodieren, die über Jahrhunderte kultiviert und somit scheinbar fixer Bestandteil unserer Identitäten geworden sind – vielleicht eine Voraussetzung, um die Komplexität der Gegenwart aufzuschlüsseln.

Amanda Piña zeigt uns, dass die Körper nicht einfach nur Körper sind. Sie sind immer auch konstruiert, und es ist wichtig, gegenüber den Mechanismen dieser Konstruktionen eine permanente Wachheit herzustellen. Mit der Geste ihrer Arbeit trägt sie vielleicht auch zu einem Diskurs bei, der eine Popularisierung linker Positionen fordert, um wieder stärker politische Relevanz zu erhalten. Sie macht klar, dass Tanz und Performance Felder sind, die Räume und Zeit für sinnliche Annäherungen und zeitgenössische Experimentierfelder schaffen, die für die Befragung, Anwendung und Weiterentwicklung grundlegend demokratischer Strukturen wichtig sind.

 

[1] wiki/Borderlands/La_Frontera:_The_New_Mestiza (zuletzt besucht am 12.10.2018).
[2] Projektion im Stück – zitiert wird aus Gloria E. Anzaldúa, Borderlands/La Frontera: The New Mestiza, San Francisco 1987
[3] Projektion im Stück – Amanda Piña zitiert aus dem Vortrag von Nicole Haitzinger DANZA Y FRONTERA: choreography of resistance at the border between Mexico and the US, IFTR Kongress, Belgrad 2018
[4] Amanda Piña im Programmtext.
[5] Projektion im Stück – Haitzinger 2018 (wie Anm. 3)

 

Daniel Aschwanden, Performer, Choreograf, wo Kunst auf Soziales trifft: performative Interventionen in urbanen Kontexten, Interventionen im öffentlichen Raum in Europa, Asien, Afrika mit Fokus auf kulturellem Austausch und Kommunikation. Transdisziplinäre Performanceprojekte, Installationen im öffentlichen Raum sowie in Black Boxes und White Cubes. Lektor an der Universität für angewandte Kunst Wien.

 

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