TQW Magazin
Lucía Ugena und Carlotta Partzsch über Rakete Part 2: NEUM, Agnes Bakucz Canário

Rituale der Selbstaufopferung und Heilung

 

Rituale der Selbstaufopferung und Heilung

Carlotta: Was beide Stücke des zweiten Rakete-Festivalabends gemeinsam hatten, war eine sakrale Stimmung. Beim Betreten des Raums der Uraufführung Live von NEUM war eine besondere, irgendwie sakrale Atmosphäre zu spüren. Zuerst habe ich nur das elektrische Schlagzeug in der Mitte des Raums stehen gesehen. Das Publikum kauerte an den Wänden auf dem Boden. Ich konnte die Performer*innen nicht richtig sehen. Aber ich habe den Gesang gehört, der monoton, anhaltend, klar und schön, aber auch unheimlich war. Das Licht war grünlich und zu gedämpft für mich, um deutlich zu erkennen, was genau vor sich ging. Dann bemerkte ich, dass eine Person auf dem Bauch auf dem Boden lag, den Kopf nach vorne gebeugt, und dass der Gesang, den wir hörten, von ihr stammte. Das Publikum war still und konzentriert und beobachtete die Szene.
Auch die zweite Performance, SADIS-ROSE von Agnes Bakucz Canário, hatte etwas Vages an sich. Im Raum war es nebelig. Wieder betraten wir, das Publikum, einen geradezu heiligen Ort. Es gab keinen offensichtlich den Zuschauer*innen zugewiesenen Bereich; die Leute fanden Sitzgelegenheiten auf Podesten, die im ganzen Raum verteilt waren. Einige saßen unter Ballettstangen. Und trotz dieser informellen Anordnung war die rituelle Energie unglaublich stark zu spüren.

Lucía: Aber die Annäherung an das Heilige war geradezu gegensätzlich. In Live tat das Gezeigte weh, in Form von sich wiederholenden Bewegungen und körperlichen Einschränkungen wurde ein Opfer dargebracht. Zuerst kam die Stimme vom Boden, der Körper nach unten gebeugt, später dann von hoch oben, nachdem eine der Performer*innen auf die Knie des anderen geklettert war, wodurch eine gemeinsame Figur entstand, die von der Körperspannung der beiden gehalten wurde. Der Wille, unter Schmerzen ein gleichmäßiges Tempo zu halten, schien ein Ausdruck von Buße zu sein. Die Bewegung des Körpers des Schlagzeugers in Richtung Tom-Tom war beinahe mechanisch und so fokussiert wie die Bewegung eines Avatars beim Tanzen, eine beharrliche Bewegung.

C: Ja. Beide Performances haben vermittelt, wie es ist, sich einem fremden, beinahe spirituellen Szenario auszusetzen, aber die Wirkung, die sie auf mich hatten, war sehr unterschiedlich. NEUMs Performance arbeitete mit Einschränkungen, während die andere Performance so wirkte, als ob sie jegliche Einschränkung verweigerte: Das erste Stück war heftig, geradezu fordernd, während das zweite die Spannung auflöste. Wer im Publikum nach der ersten Performance etwas verstört war, wurde durch die zweite wieder aufgeheitert. Deshalb fühlte sich die Kombination der beiden Stücke an einem Abend sehr schlüssig an.

L: Wie du sagst, SADIS-ROSE hat die Spannung aufgelöst. Mit ihrem Auftritt verlieh die Figur SADIS-ROSE dem Raum eine feierliche Präsenz. Sie schlängelte sich langsam durch den Raum zu einer Harfenistin, die sie begleitete. Die Tänzerin spielte mit ihrem Kostüm, um bedeckt zu bleiben, und war teilweise nicht zu sehen. Da die Performance nicht frontal war, konnte ich ihr nur durch die Köpfe der Zuschauer*innen folgen, die auf den Podesten vor mir saßen. Das Heilige würde nun in einem multidirektionalen Dialog erreicht werden; ein Dialog mit uns, den Vorhängen und den Scheinwerfern, mit denen die verschiedenen Szenen eröffnet wurden. Die Figur bewegte die Scheinwerfer, änderte die Farbe des Lichts und öffnete Vorhänge, die nirgendwohin führten. Und wir, das Publikum, waren Teil der Szene. Der Tanz entfaltete seine Wirkung auch durch das Kostüm der Tänzerin: Ihre Bewegungen veränderten sich parallel zu den Zippverschlüssen, die sie an ihrem Kleid nach und nach öffnete. Licht auf die Schuhe, die teilweise zusammenpassten und teilweise nicht.

C: Was ebenfalls einen Kontrast darstellte: Während die Bewegungen in NEUMs Stück beinahe wie eine Bestrafung wirkten, schien SADIS-ROSE spontan und ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend zu handeln. Ihre Bewegungen waren natürlich und sie bewegte sich durch den Raum, als würde sie einfach überall hingehen, wohin es sie zog. Wenn sie tanzte, tanzte sie, weil sie es wollte. Selbst als sie eine E-Zigarette herausholte und mit dem Publikum teilte, schien es einfach ein spontaner Impuls zu sein. Das hat mir sehr gefallen.

L: Genau. SADIS-ROSE kam zu den meisten von uns und bot uns an zu vapen, wenn wir wollten. Dann veränderte sich etwas und innerhalb der Veränderung gab es eine Wiederholung, und dann war da eine Stimme. Sie verließ den Raum und sang: you and I in the afterdeath. Die Spannung löste sich in einem Dialog mit Freude auf, die uns mit einschloss. Mein Handy fiel zweimal auf den Boden.

C: Für mich hatte die Atmosphäre etwas überraschend Heilsames. Agnes sorgte dafür, dass sich das Publikum wohlfühlte, aber auch etwas ausgesetzt war, wenn auch auf schonende Art.
Mir fiel auf, dass immer mehr Menschen anfingen, mit der Musik mitzuwippen. Wie du gesagt hast: SADIS-ROSE hat mit dem Publikum interagiert, ohne es direkt einzubeziehen. Es war ein Tanz zwischen Distanz und Intimität. Sie kam auf uns zu, sah uns in die Augen und ging dann wieder weg, bevor wir hätten sagen können, wie wir uns dabei fühlten. Genau genommen war es wie eine spiritistische Séance; alle Zuschauer*innen wurden in eine Art Bann gezogen. Diese bezauberunde Wirkung wirkte lange nach; ich spürte sie noch tagelang nach dem Abend.

 

 

Lucía Ugena (sie/she), geboren 1995 in Madrid, ist Künstlerin und Wissenschaftlerin und lebt in Wien. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit der Fragmentierung von Erfahrung durch die Einschreibung figurativer Malerei und Schrift im Raum. Derzeit absolviert sie ihren Master in Critical Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien, wo sie auch Bildende Kunst studiert. Sie hat einen Bachelor-Abschluss in Philosophie und Jus.

Carlotta Partzsch (sie/she), geboren 1998, konzentriert sich in ihrer Arbeit auf Themen mit Bezug auf Ökologie, feministische Theorie und psychische Gesundheit. Sie schreibt für verschiedene Publikationen und ist Teil einer selbstorganisierten Autor*innengruppe. Carlotta hat einen BA in Literatur- und Politikwissenschaft und macht derzeit ihren Master in Critical Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien.

 

 
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