TQW Magazin
Costas Kekis über Rakete Part 1 - Mohamed Toukabri und Julia Müllner

Über ABLAGERUNGEN UND GEFÜHLE oder STAUB AUFWIRBELNDE MÜTTER

 

Über ABLAGERUNGEN UND GEFÜHLE oder STAUB AUFWIRBELNDE MÜTTER

Muttertag

Es ist der Tag vor dem Muttertag, an dem ich diesen Text im Mai 2022 schreibe. Ich sollte morgen daran denken, meine Mutter anzurufen, um ihr alles Gute zum Muttertag zu wünschen. Ich halte nicht viel von solchen Feierlichkeiten, die heutzutage zu einem bloßen Vorwand verkommen sind, Unternehmensprofite zu steigern. Wenn unsere Gesellschaft Mütter wirklich feiern möchte, warum werden dann nicht entsprechende Rituale geschaffen? Wie die antiken griechischen und anatolischen Rituale zu Ehren von Cybele, der Muttergöttin, die einen von Löwen gezogenen Wagen fährt und von wilder Musik, Wein und einer unkontrollierten Anhänger*innenschaft begleitet wird. Doch bevor wir an diesen Punkt gelangen, gibt es etwas Praktisch-Sinnvolles, das getan werden kann: Müttern, die außerhalb der Festung Europa leben, erlauben, ihre Kinder ohne Visum in der EU zu besuchen. Es sollte einfacher sein für Mohameds Mutter Latifa, ihren Sohn zu sehen und mit ihm zusammenzuarbeiten, wie sie in The Power (of) The Fragile sagt. Und wenn wir unsere Überlegungen weiterführen und über die „sichere“ Blase bürgerlichen Kunstschaffens hinausdenken, sollten die Behörden damit aufhören, Flüchtlingskinder auf ihrer Suche nach einem Leben fernab von Krieg und widrigen Umständen von ihren Familien zu trennen.

Ich bin in Wien, und meine Mutter ist in Athen. Auch wir sind getrennt, weil ich meinem Wunsch zu tanzen nachgehe, genau wie Mohamed Toukabri. Latifa in Tunis hat sich immer für ihren Sohn gefreut und tut das weiterhin, fühlt sich aber nach der Trennung auch verloren.

Nach der Performance saß ich zufällig am selben Tisch wie Latifa, und sie erzählte erneut – diesmal auf Französisch, nicht auf Arabisch wie in der Vorstellung – von ihrer eigenen Tanzleidenschaft und wie ihr Vater sie dafür bestrafte, dass sie in den 1960er- und 1970er-Jahren jeden Samstagabend in Tunis in die Disco ging. Aber sie ging weiter hin. Latifa, ich verstehe nur zu gut, warum du das getan hast. Du hast dich gefreut, dass dein Sohn seinen Traum verfolgen will, und bist stolz auf ihn. Als ich mein Zuhause verlassen musste, um meiner Berufung als Tänzer zu folgen, musste ich auch darum kämpfen und meine Eltern davon überzeugen, dass das der Weg war, den ich gehen würde. Manchmal braucht es eben Beharrlichkeit, also bin ich stolz auf dich, dass du die Disco nicht aufgegeben hast!

 

Hausarbeit

Wenn ich an Mütter denke, muss ich unweigerlich auch an Hausarbeit denken. Das liegt daran, dass meine Mutter nicht nur ihr eigenes Zuhause sauber hielt, sondern auch als Putzfrau für einige unserer Nachbar*innen in den Vororten von Athen arbeitete. Immer mit Staub und Böden beschäftigt. Julia Müllner setzt sich in ihrer Arbeit vorwiegend mit Staub auseinander. Sie bewegt sich in einem vernebelten Raum hin und her und versucht, mit ihren Bewegungen und Bildern die Luft zu reinigen. Ihre fragmentierte Körperlichkeit und ihre Präsenz in diesem Raum wirken wie ein sonderbarer Zauber. Ihr geht es nicht um Sauberkeit oder Reinheit. Im Gegenteil. Sie macht sich daran, in einem Raum voll angesammelter, mysteriöse Schwaden erzeugender Partikel zu überleben. Möglicherweise geht es ihr um Sichtbarkeit. Darum, sich selbst sichtbar zu machen, aber auch zu entdecken, was sich unter dem Staub und hinter den Schwaden verbirgt.

Die Vielstimmigkeit der Klangkünstlerin Crystal Wall verstärkt die verwunschene Atmosphäre. Als Crystal zum ersten Mal den Bühnenbereich betritt, wirkt sie fast wie eine Doppelgängerin von Julia. Sie haben einen ähnlichen Körperbau und tragen gleichartige Kappen. Als Crystal einen Text mit der Vielstimmigkeit eines Dämons vorträgt, der wie aus einer anderen Dimension in unsere Sphäre zu treten scheint, bin ich mir sicher: Es sind ihrer viele, und sie fordern meine Aufmerksamkeit, genau wie die einzelnen angesammelten Staubpartikel.

 

Abwesenheit, Anwesenheit und Wesenheit

Die Anwesenheit von Staub weist auf die Abwesenheit von Menschen hin. Dabei heißt es, dass Sternenstaub ein wesentlicher Bestandteil bei der Erschaffung der Welt sei. Staub bittet nicht um Erlaubnis, in unsere Welt einzudringen. Er bewegt sich langsam und im Geheimen – Grenzen kümmern ihn nicht. Er landet auf allen Oberflächen und lädt uns ein, sie zu streicheln und gleichzeitig die Oberfläche zu streicheln, auf der er gelandet ist. Julia streichelt den Boden, während Mohamed und Latifa sich gegenseitig streicheln und uns so die Bedeutung von Berührung und Kontakt ins Gedächtnis rufen. Zwei Empfindungen, die wir alle während der Pandemiejahre entbehren mussten. Die Auseinandersetzung mit Staub ist eine – manchmal obsessive – Einladung, das Menschliche mit dem Nichtmenschlichen in Beziehung zu setzen. Berührung ist eine notwendige Voraussetzung für den Aufbau und das Gedeihen der Beziehung zwischen Mutter und Kind.

Das lässt mich wieder an Grenzen denken, an Trennung und Abstandhalten. Wie sieht es mit dem Kontakt zwischen Kulturen aus? Wie kann eine Kultur florieren, wenn sie bürokratische und physische Grenzen setzt? Latifa, Mohamed und Julia gelingt es, ihre Kunst zu schaffen, indem sie diese Grenzen hinterfragen und überschreiten. Sie gehen ihrem kreativen Drang nach, indem sie ihre generationenübergreifenden Träume verknüpfen und die fingierte und konstruierte Unterscheidung zwischen dem, was rein bzw. sauber, und dem, was unrein bzw. schmutzig ist, auflösen.

 

Koloniales Denken

Eine der Grundlagen des europäischen Kolonialismus ist genau diese Abgrenzung, die Trennung zwischen dem Reinen – Weißen, Männlichen, Menschlichen – und dem Schmutzigen – People of Color, Frauen und andere Gender, Nicht-Menschen. Zu Beginn seiner Performance erklärt Mohamed seiner Mutter Fachausdrücke aus der Welt des Theaters sowie Tanzarten, die die etablierte europäische Tanztradition widerspiegeln. Am Ende zeigt er der europäischen „Integrationsstatue“ elegant den Mittelfinger, indem Latifa als karnevaleske „Mutter Europa“ bzw. als US-amerikanische Freiheitsstatue auftritt. Julias Stück beginnt damit, dass sie mit bekümmertem Gesichtsausdruck in einem nebelverhangenen Raum arbeitet, den sie letztendlich aber nie sauber macht. Ganz im Gegenteil: Es gelingt ihr, in dieser staubigen Welt an ihrer Weiblichkeit festzuhalten und eine Poetik der Absaugschläuche und der Sandwürmer entstehen zu lassen.

 

Costas Kekis begann zu Hause und in Clubs zu lauter Musik zu tanzen. Jetzt arbeitet er als Performer, Choreograf und dramaturgischer Berater für mehrere Künstler*innen in Wien und Ungarn. Er studierte an der SEAD in Salzburg und absolvierte das Masterstudium Critical Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien. Seine Arbeiten und Kooperationen wurden bei den Ostertanztagen Salzburg, bei Festivals in Athen, Berlin, Zagreb und Bern sowie in Wien im brut, bei Raw Matters, im TQW, im WUK und bei ImPulsTanz gezeigt. In Werken von Doris Uhlich, Oleg Soulimenko, Fanni Futterknecht, Daphna Horenczyk und Sara Lanner hat er als Performer mitgewirkt. Seit zwei Jahren ist er künstlerischer Koordinator im „Performance Situation Room“ des EU-Netzwerkprojekts Life Long Burning im Rahmen von ImPulsTanz.

 

 
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