TQW Magazin
Dieter Lesage über Encounters von Alexander Gottfarb

Schichtwechsel: Verbesserung der Arbeitsbedingungen bei Langzeitperformances

 

Schichtwechsel: Verbesserung der Arbeitsbedingungen bei Langzeitperformances

Mit seinem Stück Encounters, das in diesen pandemischen Zeiten vom 4. bis 6. Dezember 2020 als Livestream ohne Livepublikum nicht im Tanzquartier, sondern an einem externen postindustriellen Standort uraufgeführt wurde, wollte der Choreograf Alexander Gottfarb, wie zuvor bei Negotiations, allem Anschein nach abermals darauf hinweisen, dass Tanz auch Arbeit ist. Da das Stück für elf Tänzer*innen fünfzig Stunden dauerte, stellt sich die Frage, ob ein Tanzstück wirklich so lang sein muss, um zu veranschaulichen, dass Tanz Arbeit ist. Warum sollte Tanz nicht als Arbeit angesehen werden, wenn ein Stück nur siebzig Minuten dauert, was angesichts all der Arbeit und all der Recherchetätigkeit, die für die Erstellung eines solchen Stücks erforderlich sind, ohnehin eine beachtliche Länge darstellt? Ich vermute, dass der „besondere“ Punkt von Encounters darin bestanden haben könnte, dass das Genre der Langzeitperformance nicht nur als Arbeit (was offensichtlich sein sollte), sondern vielmehr als „harte Arbeit“ bezeichnet werden kann, weshalb „besondere“ Maßnahmen in Bezug auf die Arbeitsbedingungen in diesem Bereich getroffen werden sollten.

In Encounters waren solche Maßnahmen tatsächlich getroffen worden, wie ich umgehend herausfand, als ich mich dem Livestream zugeschaltet hatte. Drei Stunden nach Beginn von Encounters war es Zeit für … einen Schichtwechsel. Zu diesem Zeitpunkt durfte ich miterleben, wie die Tänzer*innen, die, wie ich vermutete, bis dahin gearbeitet hatten, durch andere ersetzt wurden. Kann es sein, dass ich in den Augen einer Tänzerin ein Funkeln der Freude darüber sah, dass sie nun endlich nach Hause gehen konnte? In prekären Zeiten bleibt jedoch ungewiss, ob ein Schichtwechsel einen Wechsel zwischen Arbeit und Freizeit bedeutet oder eher einen Wechsel zwischen Arbeit und … weiterer Arbeit. Sind nicht unser aller Leben zu Langzeitperformances geworden, mit Schichtwechseln zwischen mehreren Jobs?

In einem Online-Audioguide schlug der Choreograf vor, dass das Publikum zu Hause mittanzen könnte. Aber warum sollte ich mich als Zuschauer auf die Entstehung einer Bewegung in meinem Körper konzentrieren, um diese Bewegung auszuformen und zu wiederholen, wenn ich mich in der glücklichen Lage befinde, ein Körper zu sein, der sich auf dem abenteuerlichen Weg zwischen dem Küchentisch und meinem Schreibtisch bewegt? Ist es nicht so, dass, abgesehen von der Tatsache, dass alle Tänzer*innen Arbeiter*innen sind, alle Arbeiter*innen auch Tänzer*innen sind? Warum sollte man mir dann also sagen, dass ich ein Tänzer „werden“ könnte? Bin ich nicht ohnehin immer auch ein Tänzer? Was sich wiederholende Bewegungen angeht, umfasst das Schreiben dieses Texts eine ganze Reihe davon, nicht nur meine Finger auf meinem Laptop, sondern auch meine Füße unter meinem Schreibtisch, die immer nervös zucken, wenn ich in Bezug auf meine Schreibgeschwindigkeit ungeduldig werde. Wenn eine Kamera jetzt die Füße des Kritikers unter seinem Schreibtisch heranzoomen würde, würde sie bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit den Füßen der Tänzer*innen in Encounters entdecken, die auch oft nervös zucken. Die Kamera würde allerdings auch feststellen, dass ich trauriges Opfer einer längst vergangenen Hipsterie bin. Es scheint, als ob niemand mehr die Turnschuhe trägt, die ich anhabe. Alle Tänzer*innen in Encounters tragen Onitsuka Tiger Mexico 66er, die weißen mit den blauen und roten Streifen. Ich nehme an, dass sie sehr bequem sind, besonders für Langzeitperformances. So ist es also dazu gekommen, dass Langzeitperformances, die einst einen Eindruck von Mühsal und Schmerz vermitteln sollten, zu Orten freundlicher Zusammenarbeitsbedingungen mit regelmäßigen Schichten und eleganten Schuhen geworden sind. Wer braucht noch eine Katharsis, wenn es eine Pandemie gibt?

In einer einminütigen aufgezeichneten Videobotschaft versicherte Alexander Gottfarb dem Publikum, dass „die Maße, um gesund zu bleiben und sicher zu sein“ eingehalten wurden. Auf eine Freud’sche Analyse dieses Versprechers verzichtend frage ich mich immer noch, was diese Sicherheitsmaßnahmen gewesen sein könnten. Durch die Einführung von Schichtwechseln wurde Encounters jedenfalls zu einer Langzeitperformance ohne (Aus-)Dauer und somit ohne Erschöpfung. Was die fünfzig Stunden Länge von Encounters betrifft, die in der jahrzehntelangen Geschichte der Langzeitperformances eher bescheiden ist, so scheinen Langzeitperformances immer kürzer zu werden. Das ist für mich alles völlig in Ordnung, solange der Kampf der Tanzarbeiter*innen schließlich dazu führen wird, dass ein siebzigminütiges Stück auch volle Anerkennung als Arbeit findet.

 

Dieter Lesage ist Professor für politische Theorie, Philosophie und künstlerische Forschung am Royal Institute for Theatre, Cinema & Sound (RITCS) des Erasmus University College in Brüssel.

 

 

 
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