TQW Magazin
Myassa Kraitt über No Mercy von nasa4nasa

Sirenen, Brüche und eine Choreografie der Unbeugsamkeit

 

Sirenen, Brüche und eine Choreografie der Unbeugsamkeit

Die Performerinnen Noura Seif Hassanein und Salma Abdel Salam interpretieren die folkloristische Figur El Naddaha, jene mythische Sirene vom Nil, die Männer ins Verderben lockt, im Kontext der ägyptischen #MeToo-Bewegung mit zeitgenössischem Blick neu. No Mercy entpuppt sich als schlagkräftige Antwort auf den anhaltenden Kampf gegen geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt. Das Stück wendet sich direkt an ein von der Zeit nach dem Arabischen Frühling geprägtes Publikum und sagt einer Kultur, die Opfern die Schuld zuweist, den Kampf an, ebenso dem Schweigen, das es sexualisierter Gewalt ermöglicht, Fuß zu fassen und sich in weitreichendere, heimtückischere Formen auszuwachsen.

Die schwebenden Arme und die synchronisierten Drehbewegungen der Oberkörper füllen den Raum mit beklemmender Intimität. Die beiden Performerinnen verführen mit der starken Präsenz isolierter Arme, mit Fingerverlängerungen aus Glas, die die Hände so aussehen lassen, als würden sie sich jeden Moment zur Wehr setzen. Es wirkt, als wäre El Naddaha knapp davor, zum Vorschein zu kommen, aber als sie offenbar langsam auf der cyberfeministischen Welle zu reiten beginnt, bleibt die Frage: Wann wird sie angreifen?

Der orientalisierende und exotisierende Blick des Publikums ist unausweichlich und erzeugt eine ambivalente Stimmung zwischen gespannter Erwartung und Unbehagen, während sich kreisförmige Bewegungen in einem bewusst beunruhigenden Tempo ausweiten. Im Gegensatz dazu erinnert der schnelle, fragmentierte Rhythmus der Performance an das chaotische und fortlaufende Scrollen eines TikTok- oder Instagram-Feeds und verweist gleichzeitig auf die anhaltenden Anstrengungen arabischer Feministinnen, die Kämpfe an vielen Fronten führen.

Es ist ein Aufbegehren gegen das Zum-Schweigen-Bringen, eine Mischung aus digitalem Aktivismus, Wut, Feiern, Rache und dem Zurückfordern von Raum. Noura und Salma verkörpern zwei Sirenen, mit denen ich mich persönlich nicht anlegen würde. Lieber würde ich gemeinsam mit ihnen das Becken im Takt pochender elektronischer Beats mit großer Wucht nach unten kippen und wie sie meine Bewegungen mit unbeugsamer Energie erden. Swipe – die Performerinnen verschwinden und tauchen mit einem Tisch voller Junkfood wieder auf. Es fühlt sich an wie ein postkathartisches Gelage, eine Feier nach dem Tod. Die Geräusche von knisternden getrockneten Algen, flappenden Hühnerflügeln und zwischen den Zähnen knacksenden Knorpeln füllen den Raum, ebenso wie der Geruch von gekautem und ausgespucktem Essen. Was als Mok-Bang-artige Szene aus dem Jenseits beginnt, entwickelt sich schnell zu einem Binge-Eating-Rausch: Pommes, Nuggets, Tintenfisch – bis Britney Spears’ „Gimme More“ ertönt, als der Mund einer der Performerinnen bis zum Platzen mit Burrata gefüllt ist. Es geht hier tatsächlich um „Gimme more“, wenn das Binge-Eating in einen direkten, beinahe vertikalen Swipe übergeht, der zu sich wiederholenden, kommerzialisierten Tanzsequenzen mutiert, wie ein Glitch, der in übermäßigem Konsum stecken geblieben ist. Szenen bewegen sich mit Internetgeschwindigkeit, schlagen senkrecht und wiederholt ein – einfach und kompromisslos.

Mein Fuß beginnt, den Rhythmus mitzuklopfen, da dreht sich die Person vor mir um und versucht, mich wortlos dazu zu bringen, damit aufzuhören. Ich tue das für einen kurzen Moment, mache dann aber trotzig weiter, als ich spüre, wie sich der Beat unter meinen Füßen ausbreitet. Ich stelle mir vor, mit den Performerinnen allein zu sein – nicht um der Intimität willen, sondern um das Schweigen zu brechen, den Blick zu brechen, mit der Konformität zu brechen. Zu meiner Enttäuschung gibt es kein Künstlerinnengespräch, das Einblick in den kreativen Prozess der Performerinnen hinsichtlich des spezifischen sozialen und politischen Kontexts geben könnte, auf den das Stück sich bezieht. Letztlich fordert nasa4nasas No Mercy nicht nur die Nacht und die Straßen für sich zurück und trotzt den systematisch eingesetzten Techniken, die Frauen davon abhalten sollen, als politische Akteurinnen in Erscheinung zu treten, am Ende steht auch eine starke Botschaft: Die Performerinnen legen Kufijas an und brechen damit das Schweigen über Gaza.

 

 

Myassa Kraitt ist Performancekünstlerin, Rapperin, Regisseurin und Sozialanthropologin. Ihre Arbeiten befassen sich mit direkten und indirekten Formen von Gewalt: Epistemizid, Kolonialität, Patriarchat und Nekropolitik, sowie mit antidiskriminierenden künstlerischen Praktiken. In ihrem multidisziplinären performativen Rap-Projekt namens KDM – Königin der Macht verbindet sie die Genres Rap und Performance und eröffnet queer-feministische und anti-/dekoloniale Diskurse und Vorträge auf Performance- und Musikbühnen. In ihrem aktuellen Stück The Last Feminist verbindet sie als Regisseurin die Genres Performance, Tanz, Rap und Experimental Pop. Inhaltlich widmet sie sich den inneren Konflikten feministischer Bewegungen und deutet im Scheitern und Verlust der Einheit feministische Solidaritäten neu. Derzeit leitet sie die Digitale Bühne GL!TCH4 des DSCHUNGEL WIEN – Theaterhaus für junges Publikum und arbeitet an der Serie Epistemic Ruptures an Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft. Sie ist Vorstandsmitglied der WIENWOCHE – Festival für Kunst und Aktivismus.

 

 

 

 
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