TQW Magazin
Olivia Golde über Rakete Part 4: maria mercedes und Snorre Elvin / Peter Scherrebeck Hansen

Sliding Beauty, Maybe

 

Sliding Beauty, Maybe

Eins. maria mercedes, again expressing things maybe.

Sonnenuntergang. Dachterrasse. Alles, was jetzt geschieht, kann nur romantisch sein. Die beiden Performerinnen treten in Tüll gekleidet auf und haben je ein winziges geflochtenes Körbchen in der Hand: Nester für den Text. Und der beginnt, indem sie Vögel aus ihren Mündern fliegen lassen. Möwen und andere, so lebensecht gemimt, dass ich fast das Meer riechen kann. Sind wir in Italien? Tiefe, gurrende Herrenstimme, den Performerinnen zuhören, wie sich „birds“ auf „words“ reimt. Zuschauen, wie sich die Kleidung von Tages- zu Abendrobe wandelt. Die erste Schicht wird abgelegt. Darunter: ein schwarzer Schwan und eine goldene Ente. Die Menschen im Publikum lächeln, wenn die Performerinnen ihnen zu nahe kommen, sie sind ja unantastbar. Die Menge bewegt sich wie ein Schwarm um die Bühnenvögel. Oh, und dann brausen sogar Pferde die Brandung entlang! Bewegung beginnt vor musikalischer Untermalung und geht über sie hinaus. Ein Lied erklingt und bringt uns zurück zur Jahrtausendwende. Rührselig schauen wir einander an, mit schüchternen Blicken, bis die Performerinnen das Dach verlassen und wir ihnen nach unten folgen. „I really loved it!“, sagt jemand im Fahrstuhl.

Unten im Studio: Dunkelheit, Tanzboden, Keyboard. Alles, was jetzt passiert, kann nur noch ironisch sein. Wieder eine Song-Performance, die pathetisch-schräge Seite der 2000er-Jahre. Eine Playback-Show mit Kate Bushs an endless sky of honey. Ist das Freiheit? Ist das der Raum, mit dem uns (begrenzter) Frieden belohnt? Dann noch ein Szenenwechsel: Fenster zu, Scheinwerferlicht an. Die unterste Schicht der Kostüme: Turnschuhe, Jogginghose und T-Shirt. Lasst uns gemeinsam „Mädchen“ sein, die Autos mimen. Lasst uns 20 Möglichkeiten finden, ein Fahrzeug zu sein. Eine Hand der Rückspiegel, dein Arm der Sicherheitsgurt, mein Rücken der Sitz, Wind, Wind, Wind. Autoverdeck öffnen, der Schal weht im heiter-pathetischen Maschinennebel. Das Publikum lacht. Haben wir nicht ein süßes Lachen verdient?! Applaus.

Zwei. Snorre Elvin & Peter Scherrebeck Hansen, Mermaid(s) of the Hypersea.

Eine Bühne mit Wasserkaraffen, halb voll, mit Gläsern, Kristallschalen und Vasen. Die beiden Performer*innen treten auf. Gekleidet in Kostüme aus Jeans und Rüschen, viele Rüschen, einmal High Heels, einmal Crocs. Vielleicht auch eine Art Lederharnisch. Aus dem rhythmischen Geräusch von Wasser, das in einer riesigen Glasform bewegt wird, entwickelt sich ein langsames Lied. Beide singen, begleitet von Elvin auf der Ukulele. Wasser wie ein Baby tragen, so wie wir es in unseren Körpern tragen, das Wasser. Die beiden Stimmen umspielen sich in ihrer Verschiedenheit – sehr hoch, sehr tief – und verhindern so allzu eindeutige Zuschreibungen. Dann werden in sehr präzisen Handgriffen, fast wie beim Schachspielen, mit den Schalen und Gläsern Springbrunnen gebaut, über die Wasser gegossen wird. Es ist schön, dem Wasser beim Herabplätschern zuzuschauen und zuzuhören. Es klingt, als würde es über seine eigenen Bewegungen lachen. Und dann kommt der Clou: Die beiden Performer*innen beugen sich je über einen Springbrunnen und lassen von hoch oben, ganz langsam, ihre Spucke ins Wasser sinken. Die Fontänenfäden glitzern und funkeln im Scheinwerferlicht. Oh, das ist der Moment, der endlich alles durchqueert, und plötzlich verstehe ich dies als eine neue Form von Porno – Flüssigkeitenporno, Wasserporno. Erotische Beziehungen zu und mit einem der grundlegendsten Elemente der Umwelt und damit auch mit uns selbst. Das Publikum ist sehr still. Ich lächle. Die Performer*innen gehen zum Tanzen über und musizieren von Neuem. Auf der Bühne erscheint ein Wasserkocher, oder war er schon die ganze Zeit da? Wasser wird zum Kochen gebracht, und die Performer*innen kuscheln sich aneinander. Das rote Licht des Wasserkochers beleuchtet sie sanft. Oder war es blau? Als sein Inhalt dampft, beugt sich eine*r der Performer*innen über einen Krug, und als ob Tränensalz fallen würde, lässt sie*er aus einer an der Brust versteckten Tasche ein paar Teekrümel hineinfallen. Ein süßer Moment, so würde auch ich gerne Tee bei mir tragen. Zwei Gläser werden arrangiert. Der Tee wird eingeschenkt. Beide Performer*innen erheben sich und verlassen mit ihren Tassen langsam das Studio, um ihre Zeremonie ohne uns zu beenden. Die Musik verklingt mit ihnen. Applaus.

Die beiden Performances weisen so viele Ähnlichkeiten auf, dass mir sofort nach dem Verlassen des Studios einleuchtet, warum sie für eine gemeinsame Aufführung ausgewählt wurden. Beide ein Duo, beide bringen Schönheit auf der Bühne intensiv zur Geltung, mit Körpern, Kleidung, Musik. Beide hinterfragen darin Genderstereotype und Heteronormativität. Die Hingabe an glamouröse Schönheit jedoch erscheint mir so umfassend, dass ich deren normierende Kraft als ungebrochen erlebt habe. Sie hinterlässt in mir ein Unbehagen, diese vordergründige Verkörperung von Schönheit durch zeitgenössische Codes und Accessoires. „Ist das emanzipatorisch oder exklusiv?“, frage ich mich. Gendernormen werden mit Leichtigkeit aufgehoben, während Schönheitsnormen unhinterfragt scheinen. Welche Körper, welche Fähigkeiten und Bewegungen schaffen den Weg ins Scheinwerferlicht oder werden in dieses geholt? Es geht mir auch darum, welche Arbeit und Erfahrung diese Körper, als Projektionsflächen, dann mit dem Publikum teilen, welche Sehgewohnheiten wir dadurch verinnerlichen und als Normen reproduzieren – wir alle, Künstler*innen, Publikum und Institution, als untereinander sich vermengende Teilnehmer*innen an der großen Produktion Gesellschaft.

Ich sehe den konkreten Twist, den die Performances jeweils leisten, bin mir aber nicht sicher, ob ich mir nicht eine zweite Wendung wünschen würde, eine Brechung der Brechung hin zu etwas Eigenem, das über die Spiegelung des Bestehenden hinausgeht. Wir sind hier. Wir haben einen Raum geschaffen, in dem wir spielerisch begehrte Rollen verkörpern können. Und nun? Ja, Schönheit an sich ist queer, weil sie den hässlichen Status quo der Welt infrage stellt.[1] Wie Kunst, die gelingt, lässt sie das Andere in uns aufscheinen. Vielleicht. Aber liegt darin auch die intersektionale Kraft, mit allen Augen zu sehen – anstatt das eine Auge zu schließen, um mit dem anderen sehen zu können?

Diese Diskrepanz beschäftigt mich noch aus einem weiteren Grund: Ich habe keine Meerjungfrauen gesehen, die „mit diesem gemeinsamen inneren Meer in Berührung [kommen], indem sie in einem Grenzgebiet arbeiten, in dem Wasserkörper sich verwandeln und das Imaginäre, das Sinnliche, das Performative und das Fiktive ein umfassendes Verständnis von sich ständig verändernden flüssigen Körpern schaffen“[2]. Ich habe nicht gesehen, dass „ein Drang nach Leidenschaftlich-Bewegtem, nach dem Dunklen und Regellosen erwacht. Silhouetten verschwimmen, und eine gequälte Seele sucht Platz. Das Pittoreske, das Künstliche, der Inhalt oder die Form, das Ernste oder das Frivole finden sich im Spotlight.“[3] Dies sind Zitate aus den Abendprogrammen. Ich habe mit dieser Hervorhebung nicht die Absicht, meine Irritation nur auf die Künstler*innen abzuwälzen, sondern nicht minder auf die Mechanismen, die von uns (und ich sage jetzt bewusst „uns“) eine (Kon)Textproduktion für Ankündigungen, Teaser und Websites verlangen, die unsere Praxis mit ach so vielen coolen Worten und Konzepten bewirbt, um sie damit in Glanz und Marktwert zu hüllen. Ich plädiere für radikale Konsequenz auf inhaltlicher Ebene, Bescheidenheit im Vertrieb – und dafür, dass die Mechanismen mal Luft holen gehen.

Drei. Und ich plädiere immer für Karaoke-Partys, die von Luca Büchler & Crew veranstaltet werden. Denn die Abschlussfeier des Abends und des gesamten Festivals Rakete hat die Anwesenden wirklich zusammengebracht, sie zu einer liebevollen und fürsorglichen Menge zusammengeschmolzen, die mit der süßesten, schambefreiten Peinlichkeit und Freude auf der Bühne füreinander performte. Danke dafür!

 

[1] „Queerness an sich ist Teil der Schönheit, denn Schönheit ist queer und Queerness ist schön. Binäre Auffassungen von Queerness, Sexualität und Gender sind somit Produkte der kolonialen Praxis der Ausbeutung von Körpern, Ressourcen, Natur, Werten.“ Evgenija Filova, „on beauty, the endings“ (über Natural Drama von Sorour Darabi).
[2] Aus dem Abendprogramm zu Snorre Elvin, Mermaid(s) of the Hypersea.
[3] Aus dem Abendprogramm zu maria mercedes, again expressing things maybe.

 

Olivia Golde ist Mitbegründerin und Redakteurin des Kollektivs und der Zeitschrift PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb / Politisch Schreiben. Sie lebt in Wien, macht Texte und aus denen am liebsten Zines. In ihrem Schreiben beschäftigt sie sich mit Lohnarbeitsverhältnissen oder der Suche nach einer erweiterten Sprache für Beziehungsweisen.

 

Die Texte zum Rakete-Festival 2023 wurden von Studierenden des MA Critical Studies in Kooperation mit der Akademie der Bildenden Künste Wien (Moira Hille) verfasst.

 

 
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