TQW Magazin
Daliah Touré über A Plot / A Scandal von Ligia Lewis

Some stories are hard to tell

 

Some stories are hard to tell

Ich fange ganz am Ende an. Weiß angemalt, das Kleid über den Kopf gezogen, wie dichtes Haar über ihren Rücken drapiert, in einem knappen gemusterten, hautartigen Bodysuit liegt Ligia Lewis auf weißen Buchstaben, die das Wort AUSRUHEN ergeben. Sie ist erschöpft, als wären wir wieder einmal Zeug*innen eines Revolutionsversuchs oder der Anfänge eines Aufstands geworden, ähnlich wie in den unzähligen Jahren der Rebellion Schwarzer Sklav*innen und befreiter Sklav*innen, die bis ins 17. Jahrhundert und weiter zurückreichen. Heraufbeschwört und durch ihren Körper gefahren schwebt Lewis’ Urgroßmutter jetzt eindrucksvoll im Raum. Denn, wie Lewis unheilvoll erklärt, „luckily, ghosts don’t die so easily“.

Der Anfang. Eine willkommene Aufmerksamkeit. Eine große Geste, die ganz im Gegensatz zu heutigen Codes steht, begleitet von einem hämmernden Ton, der sich für mich nach einem Cembalo anhört. Er lenkt unsere Aufmerksamkeit auf genau diesen Moment. Und ich konzentriere mich auf Ligia Lewis. Sie steht ganz vorn und schwappt über ins Publikum, dem sie direkt in die Augen schaut. Wie um herauszufinden, wer sie beobachtet, wer sie heute Abend miterlebt, wird unser Blick immer wieder zu uns zurückgeschickt. Ihr Verhalten ist neckend und zugleich konfrontativ. Ein Vertrag ist zustande gekommen. Wir verbringen den Großteil der ersten Hälfte der Performance damit, ihr dabei zuzuschauen, wie sie sich durch eine Reihe unzusammenhängender Sätze arbeitet, während Mikrofone ihren Atem, das Schnalzen ihrer Zunge und das Rutschen ihrer nackten Füße über die braunen Bodenplatten aus Holzimitat wiedergeben. Enigmatische Bewegungen, die manchmal so minimal sind, dass sie in einem Moment der Unaufmerksamkeit unbemerkt vorübergehen können. Ich stelle mir vor, den Ursprüngen ihrer Körpersprache und der Motivation hinter diesem Vokabular auf den Grund zu gehen. (Hinweise finde ich später, als ich einige ihrer Quellen nachschlage, die im Programmheft angeführt sind.) Es sind Gesten, die nie ganz enden, Impulse, die vage beginnen und manchmal einfach verebben, wie ein Augenzwinkern, das sie durchfahren hat. Das sehr bewusste Schlendern über die Bühne, die gleichgültige Lässigkeit – meines Erachtens zweifellos ein politisches Statement in Form von Bewegung, das uns dadurch dazu bringt, unsere Überzeugungen bezüglich dessen, womit wir erwartet hatten, konfrontiert zu werden, neu zu denken.

Ligia Lewis lässt ihren Blick über das Publikum wandern, bewegt sich zwischen den Sitzreihen und gibt uns zu verstehen, dass unseren Erwartungen hier nicht entsprochen wird. Ihr grotesker Humor erscheint mir wie ein Unheil verheißender Schrei – eine Vorankündigung dessen, was noch kommen wird. Eine packende Geschichte mit vielen Anfängen und keinem Ende. Die weiße Perücke von John Locke sitzt schief auf ihrem Kopf. Mit einem Ruck versetzt Ligia Lewis uns in die Vergangenheit und taucht uns in eine Welt ein, in der das himmelwärts gerichtete Bein so schön ausdrucksstark ist wie das weiche Innenfutter ihrer Robe. Ich denke über den Schaffensprozess dieser Performance nach und stelle mir vor, dass die Erzählung von ineinander verwobenen Geschichten, Anekdoten und Hauptfiguren, die sich auf der Bühne entwickelt, irgendwann explizit und klar war und dann unweigerlich durcheinandergeraten ist beim unmöglichen Versuch, eine Komplexität von einem derartigen Ausmaß zu erzählen, die Auswirkungen auf Generationen hat(te). Die eigene Identität, die im Inneren durcheinandergewirbelt wird, die Schwerfälligkeit einer linearen Erzählung werden nie so absichtsvoll und emotionsgeladen sein wie ein Schlendern über eine offene Bühne – mit Fragmenten und flüchtigen Einblicken in Ligia Lewis’ Denken, wobei ich mich innerlich wieder sammle, während ich ihr beim Flanieren zuschaue.

Einige Minuten bevor sie, weiß angemalt, zur Ruhe kommt, verwandelt sich das Kleid in einen Knebel. Kurz davor sehen wir, wie Teile der Bühnenbodenplatten umgedreht und entfernt werden; ein RACHE-Neonschild befindet sich jetzt weiter vorn auf der Bühne und beleuchtet den Boden, die Plastikschädel liegen verstreut herum, der Sound, der immer lauter wird, ist bis zur vordersten Sitzreihe geschwappt. Wir konzentrieren uns auf ihre Urgroßmutter, wir stellen sie uns vor. Ein Skandal. Ätherisch und verzückt bewegen wir uns rückwärts durch die Kapitel. Auf dieser Insel ausgesetzt, diesem Stück Land, einem temporären Raum, einer Briefmarke. Wir suchen alles ab, arbeiten uns durch den Rauch, der nach verbranntem Duftholz riecht, durch die Silhouetten, die Totenköpfe und den Satin. Lewis holt uns aus den Tiefen dieses Spektakels zurück, post-Locke, irgendwo mitten in die Feierlichkeiten anlässlich des Zeitalters der Revolutionen. Wir ordnen uns neu und finden es tröstlich, dass wir Dinge wie Symbole, Daten, Unterdrückung und das Verschlingen von Fleisch aus der Mikrowelle wiedererkennen. So ein Unbehagen wird nie vergehen. In ihren eigenen Worten: „Some stories are hard to tell.“

 

Daliah Touré ist Tänzerin. Sie lebt und arbeitet in Wien. Seit 2020 arbeitet sie in der Kunstvermittlung am Künstlerhaus in Wien und verwendet in ihrer Unterrichtspraxis bewegungsbasierte Ansätze. Sie hat einen MA in Performance, Culture and Context der University of Leeds. Ausgehend von ihrer umfangreichen Erfahrung als Tänzerin und Choreografin hat Daliah Touré eine einzigartige Herangehensweise entwickelt, unkonventionelle Räume und Orte zu erforschen sowie auf einer körperlichen Ebene Verbindungen zu anderen Kunstformen herzustellen.

 
Loading