TQW Magazin
Thomas Köck über ORACLE and SACRIFICE 1 oder die evakuierung der gegenwart von Claudia Bosse

speak, organ, speak!

 

speak, organ, speak!

Und da liegt sie dann, begraben unter diesem übergroßen Herzen, versucht, irgendwie damit klarzukommen, mit diesem Organ, das ja selbst kaum klarkommt, mit all den Metaphern, die da eben mittlerweile an ihm dranhängen, die es ja fast unsichtbar werden lassen als das, was es erst mal ist (was auch immer das heißen mag, „erst mal“), ein Muskel, genauer gesagt ein muskuläres Hohlorgan, ein fast außerirdisch anmutendes Gewebe eigentlich mit einem ganz seltsamen Eigenleben, als das es uns im Verlauf dieses Abends mehrfach präsentiert wird und dabei gleichzeitig auf eine wunderbare Art immer seine Fremdartigkeit und seine Autonomie bewahrt.

Überhaupt die Autonomie. Es ging ja bei Claudia Bosse noch nie darum, einfach mal politische Zeichen zu machen, sondern darum, die Zeichen selbst politisch zu machen, den Akt der Zeichenwerdung, den Moment, bevor etwas Narrativ wird, zum Politikum zu erheben, kein einfaches Bild, kein einfaches „signe“, das sich übersetzen lässt, weil es auf seinen Referenten verweist, sondern immer wieder die Objekte, die Räume, die Strukturen und natürlich die Körper in ihrer unübersetzbaren Autonomie betrachten, sie dem Publikum überantworten, aber ohne sie vorab schon mal mit Inhalt und These zu beschriften und lesbar zu machen, sondern sie poetisch zu verdichten und sie widerständig anzuordnen und ihnen dadurch neue Perspektiven, Un-Sinn und vor allem eben auch Autonomie zu gestatten. Da werden zwar die Mikrofone vor dem echten Rinderherzen angeordnet, und es möge doch bitte sprechen, die Hieroskopie hat nun einmal stattzufinden, „speak, organ, speak“ in diesen chaotischen Zeiten, die ja scheinbar auch nur noch Clowns und Un-Sinn produzieren, aber natürlich spricht es nicht, stattdessen scheint dieses Rinderherz das seltsame Ritual selbst anzustarren, das sich vor ihm ereignet, der an sich ja verzweifelt-unsinnige Versuch von Menschen, über ihr Leben zu verfügen, über ihre Zeit, die nicht nur in der Relativitätstheorie, sondern auch quer durch die Kulturen immer wieder als immanent gedacht wurde, also Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit im Prinzip begehbar, gleich-zeitig, eben wie ein Raum.

Diese Befragung des Herzens samt ausbleibender Reaktion dieses Hohlorgans, das eher skeptisch zurückblickt und fragt, was das alles soll, ist eine von vielen auch absurd-komischen Situationen in diesem ersten Solo ORACLE and SACRIFICE von Claudia Bosse.

Wiewohl natürlich auch der Begriff „Solo“ etwas irreführend ist. Eigentlich erscheint es wie eine Auseinandersetzung mit den unzähligen Abzweigungen, die ihre Arbeit in den letzten Jahren genommen hat, all die Fragen, die sich so angesammelt haben, all das unterschiedliche Material, und auf eine wunderbare Art und Weise versammelt sie eher all die Gespenster, die Erfahrungen, Kompliz*innen und Reisen dieser langen, radikalen, keine Kompromisse zulassenden künstlerischen Praxis und ist eigentlich nie „solo“ da auf dieser Bühne, stattdessen immer umgeben von Zeiten, von Fragen und vom Material der letzten Jahre.

Und so überlagern sich die unterschiedlichen Räume auch in ORACLE and SACRIFICE zwischen Texten von Thyestes, antiken Opferritualen und dem indonesischen Denken von Zeit, Linearität und Kausalität, ohne sich auszulöschen oder Raum zu nehmen. Ganz umgekehrt wirkt es eigentlich sehr schlüssig, gerade heute und gerade jetzt, wo im digitalen Raum der Opferkult geradezu eine seltsame Renaissance feiert, die dann auch außerhalb des digitalen Raums für archaische Rückfälle, zunehmende Polarisierung und den Wunsch nach kollektiver Enthemmung sorgt, sich noch einmal mit dem Ursprung des Theaters aus dem Opferkult zu beschäftigen. Es waren im Übrigen autonome Frauen, Heilerinnen und Weissagende, die während der Frühphase des Kapitalismus als Hexen gebrandmarkt und wegen ihrer „heidnischen“ Rituale verfolgt und europaweit zu Hunderttausenden getötet wurden, wie uns Silvia Federici mitteilt – wobei das Hauptproblem daran war, dass sie ihre Dienste gratis zur Verfügung stellten, was wiederum die Expansion der frisch gegründeten Märkte gestört hätte.

Und Jason Moore zufolge muss man den Kapitalismus als Teil des „web of life“ lesen, dessen beständige revolutionäre Mechanik darin besteht, immer neue Teile dieses „web of life“ in „Natur“ zu verwandeln, also in einen billigen Rohstoff, der zur Aneignung freigegeben ist. Wälder, Tiere, Körper, Bevölkerungsgruppen, Kulturen, Reproduktionsarbeit usw. Die große Kraft von Claudia Bosses Ästhetik liegt gerade darin, immer in Symbiosen zu denken, nicht in Bedeutungen, also die Objekte, die Zeiten, das Material und die „natürlichen“ Organe und Elemente auf der Bühne, aber auch die Körper rückzuverwandeln, ihnen eine Würde und ein Eigenleben zuzugestehen, das weit über unsere gegenwärtigen Zuschreibungs- und Bedeutungssysteme hinausweist und sie auch der schlichten, einfach lesbaren künstlerischen Verwertbarkeit entzieht. Stattdessen findet man sich in einer poetisch-widerspenstigen Landschaft wieder, die völlig unangestrengt zwischen autobiografischen Spuren, Skulptur, Tanz und Dokufiktion wechselt.

Pardon, ich schweife und kreise und könnte noch ein wenig so weiterschweifen und habe jetzt noch nicht viel über den konkreten Inhalt von ORACLE and SACRIFICE gesprochen, habe die Opfermetapher noch nicht einmal ansatzweise ausgeschlachtet, habe noch gar nicht richtig angefangen, mich durch die auf der Bühne entleerten Organe zu orakeln, was passiert, was passieren wird und was das alles vielleicht gewesen sein wird, was ich darin gelesen haben werde, wie man es identifiziert haben wird, dieses gespenstische Solo, das so cool und unangestrengt zwischen Archaik, Readymade und moderner Kunst changiert, ich bin aber auch kein Kritiker und schon gar kein Hieroskopiker, und ich möchte den Eingeweiden auch ihren Raum lassen, aber ja, natürlich wird in Eingeweiden gelesen, ja, klar wird geopfert, und ja, natürlich ist die Musik von Günther Auer wie immer saucool, zitiert sich mal sacht polyrhythmisch durch ritualistische Klänge und bleibt dabei trotzdem elegant unterstützend in ihrer Autonomie. Ja, Claudia Bosse ist natürlich eine Hammerperformerin, der man gerne zusieht, die einen ratzfatz mit ihrer lässigen, schnörkellosen Haltung in den Bann zieht und der damit sogar das Kunstwerk gelingt, eine von Hygienevorschriften aufgezwungene Frontalsituation nahezu mühelos zu meistern, und ja, sure, Claudia Bosse lässt sich sehr viel Zeit, bevor sie zu sprechen beginnt. Ganz vorsichtig lässt sie die ersten Töne und Seufzer durch die Luftröhre über die Zunge aus dem Mund kommen, bevor sie dann langsam sinnhafte Sprache und Zeichen werden, und ja, selbstverständlich findet die Ooskopie statt, mit einem irre witzigen und dabei dennoch streng archaischen Ritual, ja, es wird an einem knabenhaften jungen Mann vollzogen, der sich gerade im richtigen Opferalter befindet, und klar werden die Hände der Hieroskopikerin gewaschen, die uns skeptisch-irritiert anstarrt, ja, die Organe werden durch den Raum geschleift, getragen, geschleudert, ja, die Innereien werden im Raum verteilt, ja, wir befinden uns irgendwann an einem historisch-poetischen Tatort, an dem alles gleichzeitig vorhanden ist und sich alles gleichermaßen entzieht, und ja, es tritt ein Double von Claudia Bosse auf, selbst eine Hieroskopikerin des Strafrechts, eine Staatsanwältin aus Bielefeld, die ihrerseits Organe, Körper, Eingeweide wie Beweisstücke liest und auf eine ganz bezaubernde Art damit auch sehr viel über die archäologische Arbeit dieser anderen Claudia Bosse erzählt, die seit mehr als einem Vierteljahrhundert mit unterschiedlichen Kompliz*innen den Zeichen, den Zeiten und den Räumen einfach keinen Frieden lässt, und ja, die Organe werden zur Lektüre freigegeben, und ja, die Eingeweide tragen alles in sich, wie ein Code, wie eine identifizierbare Struktur, und nein, natürlich verrät uns die Hieroskopikerin nicht, was sie erzählen, diese Eingeweide, was sie prophezeihen, was kommen wird, was darin geschrieben steht, geschrieben stand, schon immer, zu allen Zeiten, was sie identifiziert. Natürlich verrät sie uns nicht, was sie letztlich liest, natürlich belässt sie, wie auch allen anderen Objekten und Körpern im Raum, auch all den noch kommenden Vergangenheiten, all den noch zu vergessenen Zukünften, die schon jetzt mit ihr im Raum stehen, ihre Autonomie, ihre Möglichkeiten, ihre Zeit und lacht uns stattdessen fröhlich ins Gesicht, nachdem sie mittlerweile unter dem Herzen hervorgekrochen ist, sich befreit hat und dieses Herz stattdessen jetzt mit diesem orakelhaft-schelmischen Grinsen weiter um sich kreisen lässt.

 

Thomas Köck, geb. 1986 in Steyr, Oberösterreich, arbeitet als Dramatiker, Autor und Musiker. Er ist Mitinitiator von nazisundgoldmund.net und entwickelt mit Andreas Spechtl unter dem Label ghostdance konzertante Readymades. Für seine Theatertexte, die im gesamten deutschsprachigen Raum gespielt werden, wurde er mehrfach ausgezeichnet.

 

 

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