TQW Magazin
Stefan Tigges über This is not a garden von Lisa Hinterreithner

Szenische/choreografierte anthropozäne Denkfiguren

 
Frau, dunkle Haare hellblaues T-Shirt, liegt und hält sich einen einen Baumschwamm wie eine Brille vor die Augen

Szenische/choreografierte anthropozäne Denkfiguren

„Wenn tausend Formen von Handeln die Erde beseelen, warum hat man sie sich dann als wesentlich leblos und unbeseelt vorstellen wollen? […] Können wir dazu fähig werden, uns an die der Erde eigene Belebtheit zu halten?“ (Bruno Latour)[1]

Die Konturen des Zeitalters des Anthropozäns und dessen vielschichtige und miteinander verflochtene Folgen werden zunehmend schärfer bzw. konkreter. Entsprechend wachsen die aus diesem Bewusstseinswandel und Erkenntnisgewinn resultierenden Herausforderungen und dringlichen Verantwortlichkeiten, die sowohl unseren (blauen) Planeten als Ganzes als auch uns Menschen – besser uns als Erdbewohner (Latour) – betreffen.

Folgende Ausgangspunkte, die zumeist unmittelbar zusammenspielen und dabei ein hohes Diskurspotenzial freisetzen, erscheinen mir in diesem Kontext besonders elementar und helfen, die Arbeit von Lisa Hinterreithner spielerisch-reflexiv zu grundieren.

Die Erde ist, so auch Jürgen Renn und Bernd Scherer, weder eine „bloße Ressource“ noch eine „stabile Umwelt“ noch eine „Kulisse unseres Handelns“, womit, so die entscheidende Zäsur, die Menschheitsgeschichte durch das Ausbleichen des Holozäns zu einer hochdynamischen Erdgeschichte transformiert.[2]

Interessant ist nun, dass der Mensch in diesem Prozess in Form einer doppelsträngigen Denkbewegung, die uns wie eine komplexe Mehrfachbelichtung erscheinen mag, einerseits als Protagonist/Subjekt stark aufgewertet wird, indem er endlich zur Gänze für seine folgenreichen Eingriffe in die Erde / die Natur zur Verantwortung gezogen und leider noch immer nur bedingt dafür angeklagt wird. Andererseits schmilzt die Bedeutung der Rolle des Menschen in unserem Erdkosmos durch die Fokussierung auf das nichtmenschliche Leben erheblich, indem gerade Tiere und Pflanzen nun schrittweise die ihnen zustehende Aufmerksamkeit erhalten und damit, so eine weitere signifikante Nebenwirkung, das/unser Natur-Kultur-Verhältnis (völlig) neu zu denken ist. Oder zugespitzt mit den Worten von Bruno Latour: „Der anthropos des Anthropozäns ist nichts weiter als die gefährliche Fiktion eines als einheitliche Menschheit agierenden Universalakteurs.“[3]

Wie lassen sich also, so die entscheidende Frage, alternative und vor allem zeitgemäße Denk- und Handlungsräume, die ökologische, ökonomische, soziale, ethische und politische Dimensionen berühren und in ihrem Zusammenwirken berücksichtigen, ästhetisch mit anstiften bzw. ins Spiel bringen – ohne dass diese dabei in alten Repräsentationsmustern ermüden? Und wie können diese avancierten diskursiven und handlungsorientierten Räume in den Künsten aussehen, mündig sowie nachhaltig auf- bzw. hervortreten?

Anknüpfend an diese Fragen lohnt ein kurzer Blick in den von Michel Serres entworfenen neuen Naturvertrag, der weniger eine naiv anmutende utopische Geste als vielmehr konkrete Fragen oder zukunftsweisende Handlungsanweisungen formuliert, die wiederum kreative Potenziale freisetzen und damit die Künste berühren.

Dazu einige kurze Ausschnitte, die als hintergründige Gedankenfragmente auch in den offenen künstlerischen Suchbewegungen Lisa Hinterreithners eine Rolle spielen.

So fragt Michel Serres, der betont, dass wir „Gaben (dons) von der Welt erhalten, dieser Schäden (dommages) zufügen, welche die Erde uns dann in Gestalt neuer Gegebenheiten (données) zurückgibt“, und damit (un-)mittelbar aktuelle Care-/Achtsamkeitsdiskurse berührt, zunächst: „Muß man erst noch beweisen, daß unser Verstand der Welt Gewalt antut? Verspürt er nicht mehr das vitale Bedürfnis nach Schönheit? Die Schönheit erfordert den Frieden; der Frieden setzt einen neuen Vertrag voraus.“[4]

Dieser Weg zu einer neuen friedliche(re)n Haltung/Lösung ist, und dies ist wenig überraschend, äußerst konfliktbeladen, da er einen radikalen gesellschaftlichen Systemwechsel einfordert, die bestehende Rechtsordnung attackiert und damit den existierenden Gesellschaftsvertrag entscheidend fortschreibt: „Also zurück zur Natur! Was bedeutet: den ausschließlichen Gesellschaftsvertrag durch einen Naturvertrag der Symbiose und Wechselseitigkeit ergänzen, bei dessen Abschluß unsere Beziehung zu den Dingen sich ihrer Herrschaft und ihres Besitzstrebens begibt zugunsten von bewunderndem Zuhören, Wechselseitigkeit, Kontemplation und Respekt, worin Erkenntnis nicht mehr Besitz und Handeln nicht mehr Herrschaft voraussetzt und letztere auch nicht ihre sterkoralen Resultate oder Bedingungen. […] Der Parasit nimmt alles und gibt nichts; der Wirt gibt alles und nimmt nichts. Das Herrschafts- und Eigentumsrecht reduziert sich auf den Parasitismus. Das Symbiose-Recht dagegen ist durch Wechselseitigkeit ausgezeichnet: So viel die Natur dem Menschen gibt, so viel muß der Mensch ihr, die jetzt Rechtssubjekt geworden ist, zurückerstatten.“[5]

Der Prozess und die Formen des (künstlerischen) Aus- und Verhandelns dieser Rückerstattung, die mit ihren ethischen Implikationen weit über die Frage des vorauszusetzenden Verständnisses von Natur als Rechtssubjekt hinausgehen, scheinen besonders auf ein kunstformenspezifisches Moment hinzuweisen, das diese in ihrem dialogischen Eintreten mit den zunehmend inter-/transdisziplinär agierenden Natur- und Geisteswissenschaften als kreatives Kapital ausspielen können: die von den Künsten ausgehenden sinnlichen Spielräume und Diskurspotenziale, die zudem soziale Rahmungsprozesse sensibilisieren können. Dieses Moment betont auch Bernd Scherer, der für neue künstlerisch-ästhetisch geprägte Wissenssysteme eintritt, die wiederum (un-)bedingt eine Aufhebung der Trennung in Naturwissenschaften und Kultur- und Geisteswissenschaften voraussetzen: „Die ästhetischen Verfahren der Künstler:innen ermöglichen so neue, differenzierte, sinnliche Zugänge zu Phänomenen, die bisher begrifflich nicht erfasst wurden bzw. werden konnten, und befördern damit neue Darstellungsformen. Sie machen die in lokale Entwicklungen verwobenen planetarischen Prozesse und damit Skalierungsprozesse des Anthropozäns erfahr- und begreifbar, die normalerweise über Daten und Algorithmen gesteuert werden. Und schließlich artikulieren sie viele scheinbar abstrakte, in ihrer Wirkung aber zerstörerische Prozesse, indem sie diese an konkrete individuelle und soziale Erfahrungen rückbinden.“[6]

Die als Performancekünstlerin arbeitende Lisa Hinterreithner verortet sich inhaltlich zusammen mit ihren drei Mitperformerinnen Rotraud Kern, Sara Lanner und Linda Samaraweerová mit This is not a garden in den zuvor skizzierten Diskursen, um diese choreografisch mit spürbarer Fürsorge für das / mit dem Publikum in Form einer verschwimmenden „menschlich vegetabilen Utopie und dystopischen Realität“, wie es im Text auf dem Programmzettel heißt, bewusst offen auszuhandeln. Dabei hebt sie mittels ihrer immersiven/partizipativen wie auch installativen Setzung behutsam die soziale Dimension in Form der individuellen/kollektiven Teilhabe sowie die Sensibilisierung von Wahrnehmungsprozessen, d. h. das sinnlich aufgeladene Moment des Riechens, des Schmeckens und speziell des transkorporalen Berührens/Fühlens mit Formen des Pflanzlichen, das die Performerinnen ins Spiel bringen, als ästhetisches Erleben/Erfahren hervor.

Bereits zu Beginn der zweistündigen Performance zeigt sich, dass die Turnhalle des im 5. Wiener Gemeindebezirk (temporär) angesiedelten „Creative Cluster“ als eine hierarchiefreie Probebühne bzw. szenische Versuchsanordnung ohne Zentralperspektive fungiert, die einerseits als „Retreat für Menschen und Pflanzen“ und andererseits als ein sich prozessartig auffaltender leiser/nachhaltiger heterotopischer Diskursraum erfahrbar wird.

Die Strukturen der Performance sind ebenso klar wie deren Spielregeln. Die Zuschauer*innen werden gemeinsam von den Performerinnen in die Turnhalle geleitet und nach einer kurzen Begrüßung in mehreren Kleingruppen an im Raum verteilten niedrigen Tischen, an denen parallel verlaufende spielerische Interaktionen angestiftet werden, auf dem Boden sitzend positioniert, um daraufhin mit ihrer Gruppe wiederholt die Tische zu wechseln.

Die Tischanordnungen bilden wiederum einzelne inselartige Kosmen mit einem intimen Eigenleben, die im Verlauf der Performance zusammenwachsen, indem der zunehmend mit Pflanzen gefüllte und bespielte Raum zu einer Landschaft wird, die sich auch als ein entstehendes/temporäres (utopisches) künstlerisches Biotop – und eben nicht als ein künstliches Biotop wahrnehmen lässt.

Als künstlerisches Biotop im Sinne einer angesiedelten heimischen pflanzlichen Welt, die weder domestiziert noch kolonialisiert noch als Kulisse ausgestellt noch (über-)ästhetisiert wird, worauf bereits der Titel dieser Arbeit hinweist. Analog dazu sind die ins Spiel kommenden natürlichen und später zumeist wieder in ihre natürliche Umgebung rückgeführten Materialien wie Stroh, Äste, Moos, Kräuter, Ton oder Pflanzen nicht als Requisiten, sondern als nichtmenschliche (Lebe-)Wesen bzw. gleichberechtigte Subjekte zu verstehen, die mit ihrer Wirklichkeit / ihrem Eigenleben in einen Dialog, besser: in einen Stoffwechsel, mit uns Erdbewohner*innen treten.

Die Zuschauer*innen werden im Verlauf der Performance, die mit einer den Raum strukturierenden (atmosphärischen) Soundcollage (Lisa Kortschak, Elise Mory) grundiert wird, u. a. dazu eingeladen, mit Ästen Skulpturen auf den Tischen zu gestalten, Moose zu berühren, einen an einen biologischen Fußabdruck erinnernden Händeabdruck in feuchter Tonmasse zu hinterlassen, Pflanzen zu (er-)fühlen, an Kräutern zu riechen, sich unter Laubdecken oder Ästezelte zu legen oder sich gegen Ende mit selbstgewählten (oftmals liegenden) Positionen in der natürlichen Raumlandschaft eher kontemplativ/meditativ zu verorten. Andererseits kann das Publikum zuvor an Tischen einen von Lisa Hinterreithner eingesprochenen Podcast, der in gemeinsamer Recherche mit Markus Gradwohl entstanden ist, über Kopfhörer verfolgen. Darin wird u. a. danach fragt, ob oder wie Pflanzen Menschen (als Bedrohung) wahrnehmen.

Im zweiten Teil des Podcasts wird die Bedrohung in Form der Kolonisation der Pflanzen konkretisiert, was sich u. a. daran zeigt, dass Pflanzen aus ihrer natürlichen Umwelt gerissen, in fremde Natur- und Kulturräume transferiert werden, ihre alten Funktionen und Bedeutungen verlieren können, wie auch daran, dass ihre ursprünglichen Bezeichnungen mit lateinischen Begriffen umbenannt werden.

Diese Form der Kolonialisierung erinnert wiederum an den Beginn der kapitalistischen Plantagenwirtschaft, in der nicht nur pflanzliche Erzeugnisse standarisiert, sondern auch die eingesetzten Sklav*innen weiterverkauft und von ihren neuen Besitzer*innen bewusst durch Namensänderungen in ihrer Identität ausgelöscht wurden.

Die Performance, die in heruntergedimmtes, entspannendes Licht getaucht ist und spürbar mit Zeiterfahrungen spielt, deutet noch auf ein anderes Moment hin, das in den zeitgenössischen performativen Künsten aufgrund des steigenden gesellschaftlichen Realitäts-/Zeitdrucks zunehmend thematisiert wird: Spielarten der Entschleunigung, die nicht nur unsere Wahrnehmung wieder schärfen, sondern vielleicht ebenso ein utopisches (spielerisch avanciertes) Potenzial aufweisen können. So bemerkt Julian Pörksen, „dass die Suspendierung des Zeitverwertungszwangs zu einem ästhetischen Zustand zwangloser, spielerischer Betrachtung führen kann, zu einem Daseinsmodus, in dem nichts gewollt, nichts erwartet wird“[7].

Daran anknüpfend wäre u. a. zu fragen, ob und inwieweit genau diese künstlerisch grundierten Zustände dazu beitragen, das Natur-Kultur-Verhältnis (sinnlich) neu zu denken und vielleicht auch aktiv anders auszuformen.

 

 

Stefan Tigges lebt in Berlin. Er lehrt und forscht an den Schnittstellen von theoretischer und künstlerischer Ausbildungspraxis bzw. Schauspiel, Dramaturgie und Bühnenbild, zuletzt am Institut für Schauspiel an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz, am Institut für Bühnenbild an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur an der Universität Hildesheim sowie an weiteren Universitäten im In- und Ausland. Von 2009 bis 2012 vertrat er als Wissenschaftler die Schaubühne Berlin im europäischen Theaternetzwerk Prospero. Zudem leitet er Workshops, etwa im Rahmen des internationalen Theaterfestivals Divadelná in Nitra/Slowakei. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Gegenwartstheater/Performancekunst, zeitgenössische Dramaturgien/Stückentwicklungen, Schauspieltheorien, Bühnen/Räume, Theateravantgarden im 20. Jahrhundert. Aktuelle Publikation: Jürgen Gosch / Johannes Schütz. Theater, Bielefeld 2021.

 

[1] Bruno Latour, Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, Frankfurt am Main 2020, S. 114, 474.
[2] Jürgen Renn, Bernd Scherer (Hg.), Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge, Berlin 2015, S. 14.
[3] Latour 2020 (wie Anm. 1), S. 415.
[4] Michel Serres, Der Naturvertrag, Frankfurt am Main 1994/2015, S. 76, 47.
[5] Ebd., S. 68f.
[6] Bernd Scherer, Denkbilder und Handlungsmuster des Anthropozäns, Berlin 2022, S. 150.
[7] Julian Pörksen, Verschwende deine Zeit, Berlin 2013, S. 103.

 

 

 
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