TQW Magazin
Eva Maria Stadler über RUSH von Mette Ingvartsen

The Mind is a Muscle

 

The Mind is a Muscle

Ein menschlicher Körper betritt den weißen, mit wenigen Gegenständen ausgestatteten Bühnenraum. Rumpf, Kopf und Gliedmaßen werden bewegt, unförmig aber, kreatürlich – das Spiel der Muskeln scheint sich zu verselbstständigen, das Körperbild im Kopf kippt.

Die dänische Choreografin Mette Ingvartsen ringt dem Körper einiges ab, sie lässt ihn buchstäblich aus sich herauswachsen. In diesem Fall dem Körper der Tänzerin und langjährigen Kollaborateurin Manon Santkin. Gemeinsam mit ihr und für sie wurde die Soloperformance konzipiert. Mit einem sehr einfachen Trick verwirrt und irritiert Santkin im ersten Bild des Abends mit dem Titel RUSH im Tanzquartier Wien. Sie setzt eine Maske auf, die den Rücken zur Vorderseite macht. Der nackte Körper bewegt sich über die Bühne kriechend, krauchend, auf allen vieren, den aufrechten Gang suspendierend.

RUSH versammelt Choreografien aus den letzten 20 Jahren und gibt damit einen Ein- und Überblick in und über das Werk von Mette Ingvartsen. Die 1980 geborene Choreografin schließt mit ihren Arbeiten an die minimalistischen und konzeptuellen Formen des Tanzes der 1960er- und 1970er-Jahre an. Damals setzte Yvonne Rainer mit dem Stück The Mind is a Muscle (1968) dem humanistisch-aufklärerischen Geist-Körper-Dualismus eine entsublimierende Verkörperlichung entgegen, wie Sabeth Buchmann es beschreibt.[1] Die Auflösung von Objektbesetzungen, wie Yvonne Rainer sie praktizierte, ging mit dem radikalen Paradigmenwechsel der Minimal Art einher, wonach nicht mehr die Skulptur/das Objekt im Zentrum steht, sondern die Bewegung um das Objekt, der Umgang mit dem Objekt, Prozess und Handlung. Diese Wertverschiebung vollzog sich zeitgleich in der Entwicklung digitaler Codes und der klaren Unterscheidbarkeit und Reproduktion identer Zeichen.

Mette Ingvartsen geht nun einen Schritt weiter. Bei ihr findet sich die vertraute Sprache des Digitalen, wenn sie idente Zeichen als choreografische Handlungsanweisungen in Szene setzt, zudem treten die Zeichen in Form von Gegenständen auf wie etwa Überlebens- oder Rettungsdecken, mit denen die Tänzerin umgeht. Die hauchdünnen biaxialen Polyesterfolien, auf die eine stark reflektierende Schicht aus Aluminium aufgedampft wird, um Schutz vor Nässe, Unterkühlung oder Wind zu bieten, bekommen bei Ingvartsen tänzerische Qualitäten. Mit Pumpen werden sie wolkengleich in die Luft gehoben, sanft sinken die Decken zu Boden.

Das Spiel mit den Elementen Licht und Luft einerseits und die Überwindung binärer Ordnungen, wie sie in der Unterscheidung von menschlich und nichtmenschlich zum Ausdruck kommt, andererseits lassen erahnen, dass nicht der Mensch allein das Maß aller Dinge ist. Vielmehr interessiert sich Ingvartsen in Stücken wie Why we love action (2007) oder Seven Pleasures (2015) für die Erweiterung von Beziehungsfeldern. Die tänzerische Interaktion etwa mit einem Tisch, die an Actionfilme denken lässt, oder das Spiel mit Special Effects aus Farbe und Licht zeugen von einem hohen medialen Bewusstsein, das sie auf die Körperbilder einwirken lässt. Über den Einsatz partizipativer Strategien sucht die Choreografin nach Formen, die die Körper aus dem engen Raster einer digitalen Produktionslogik ausbrechen lassen.

Die Kompilation der Arbeiten der letzten Jahre wird in RUSH mit einem Subtext kommentiert. Dadurch entsteht eine Arbeitssituation wie auf einer Probe, die uns Zuseher*innen zu Kompliz*innen macht. Nun müssen wir mit allem rechnen.

 

Eva Maria Stadler ist Kuratorin für zeitgenössische Kunst, sowie Vorstand des Instituts für Kunst und Gesellschaft und Professorin für Kunst- und Wissenstransfer an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Von 2019 – 2023 war sie ebendort Vizerektorin für Ausstellungen und Wissenstransfer.

[1] Sabeth Buchmann, Denken gegen das Denken. Produktion, Technologie, Subjektivität bei Sol LeWitt, Yvonne Rainer und Hélio Oiticica, Berlin 2007, S. 203.

 
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