TQW Magazin
Rio Rutzinger über I would like to be a better person von Navaridas & Deutinger

The mountains are all twisted in the back

 

The mountains are all twisted in the back

Ich bin durcheinander …

so viele Ebenen! Nämlich plötzlich!

Wie die meisten hab ich grad ein Stück über Intimität gesehen, über Nähe zum Publikum, über das viel besungene Durchbrechen der vierten Wand. Marta Navaridas wird von uns quasi am frühen Abend angerufen, du, Marta, kannst du uns spontan ein Stück machen, und sie kommt so, wie sie grad ist, ungeschminkt, in einfachem schwarzem Gwand, stellt sich in den einfach nur deckenbeleuchteten (und damit uns komplett einschließenden) leeren Raum, kein Sound, kein Effekt, und erzählt uns von ihrer Wohnung, als würden wir alle mitten in ihr stehen. In der Wohnung. In Martas Leben aber eh auch. Was eben ein Daheim und seine Einrichtung alles erzählen über die drin Innewohnende. Die Bücher („Politics & True Desires“). Das Kabuff („I could fix a lot of things“). Das Schlafzimmer („I like my bed a bit bouncy“). Wie sich die gestischen Erzählungen verhaken: Bei der Nachbetrachtung, unten bei den Rauchenden im Schlurf zwischen TQW und Leopold, haben wir festgestellt, dass wir uns anders rasieren, anders den Hintern auswischen, doch die Hände waschen … jedenfalls dass uns alle die gezeigte Nassraumintimität voll reinzieht in unsere eigene Reinigungsgeschichte, unsere persönlichen An- und Ausziehroutinen, vierte Wand also so was von baba.

Songs zum Stück:

Blumfeld, „2 oder 3 Dinge, die ich von dir weiß“

Rio Reiser, „Stiller Raum“

Britta, „DJ Holzbank“

Clap Your Hands Say Yeah, „Mama Won’t You Keep

Them Castles in the Air and Burning?“

Damien Rice, „Accidental Babies“

Perrine Bailleux, „Dans mon jardin“

Radiohead, „Where I End and You Begin“

Sue Ellen, „Schön und sauber“

Und wir lachen. Wir schmunzeln. Wir sympathisieren. Also ich auf jeden Fall, aber so ein Raum mit sechzig Leuten, der spürt sich schon irgendwie gegenseitig, und zumindest in meiner „Hood“ des Studio 2 waren da ständige Empathie und Lust und Neugier auf mehr von dieser Person, die wie Marta aussieht, spricht und scheinbar auch in Graz wohnt, aber vielleicht doch auch stückweise so greifbare, konkrete, menschelnde Fiktion ist. Die meisten von uns kennen Marta (die reale Person) bereits, und ich wage schon wieder von einem „Wir“ zu sprechen, wenn ich behaupte, dass „kennen“ bei Marta immer auch „mögen“ heißt, und auch die Performance-Marta ist eine, mit der ich mich gern in einer WG sähe. Sie hat einen wachen Außenblick auf die lokale Kultur (selbst bei Demos ist man hier leise, beobachtet sie, laut wird man nur, wenn’s in einer anderen Wohnung zu laut wird), sie hat Schmäh, sie hat Rot lieber als Anthroposophiefarben, und selbst das Klositzen hat bei ihr eine gewisse Rockstarlässigkeit. Sie spricht uns direkt an: „I would like to be a better person“, und trotzdem bestimmen wir den Grad des Einlassens auf sie und ihre Geschichte. Und oja bin ich da gern drin – ich liebe anderer Leute Leben, ich bin überhaupt, glaub ich, so gern in der Tanzundperformancewelt wegen der so inspirierenden und reflektiert- selbstbewussten Menschen mit herzenswarmer Bodenhaftung. Navaridas & Deutinger Paradebeispiel.

Wo war ich? Ah ja, durcheinander! „Who is the people, by the way?“, fragt Marta im Performanceankündigungsvideo. Und auch der Abendzettel fragt sich das gewissermaßen. Und Marta antwortet, ich. Also sie, nicht ich. Sie als Stand-in für das Volk. Lustig. Ich mein, interessant. Daran dachte ich während des Stücks nie. Ging mir auch nicht ab, der Gedanke. Dabei fing der ganze Kreationsprozess für dieses Stück mit der Fragestellung an! Und lief als Subtext sicher ständig mit im Laufe der Proben im Grazer Badezimmer mit den schiachen Fliesen und der existenzialistischen Wand darüber.

Apropos: Jemand im Publikum sah Marta in dieser Arbeit als Existenzialistin/ Ballerina/Kung-Fu- Girl/Pantomimin. Und sie fand an all diesen Projektionen Gefallen.

Songs zum Stück:

Faber, „In Paris brennen Autos“

PeterLicht, „Heimkehrerlied“

Scout Niblett, „Do You Want

to Be Buried With My People“

The Beatles, „Piggies“

Gil-Scott Heron, „The Revolu-

tion Will Not Be Televised“

Gustav, „Verlass die Stadt“

Jacques Brel, „Ces gens-là“

Jan Delay, „Söhne Stamm-

heims“

Wie gesagt. Für mich hat das im Nachhinein eine völlig andere Ebene eingezogen, nicht so sehr ins Stück und in meine Erfahrung währenddessen, sondern im Drübernachdenken danach. Adrian Monks „Das sind Leute – die glauben alles“ fiel mir ein. In dem Zusammenhang auch die Brücke zu Biljana Tanurovskas Statement über die Menschen am Balkan („we believe a lot“). Und natürlich „Humanity is ok, but 99 % of people are boring idiots“ (Slavoj Žižek). Und somit die Unmöglichkeit des Tasks, „das Volk“ zu sein. Sehr sympathisch von Navaridas & Deutinger. Für mich halt.

Ah ja, auch noch schön: „People give their bodies to science – I think that cannibals would be much happier“ (Jim Moriarty). Und schließlich der Titel. I would like to be a better person. Hab ich auch völlig vergessen während der 60 Minuten mit 60 Menschen und 1 Marta in einem leeren weißen Raum. In den am Schluss tatsächlich doch noch ein Effekt sich einschleicht, nämlich die Prismenspiegelung der Sonneneinstrahlung an der Grazer Wohnungswand (also die nachempfundene Kopie davon halt). Das war nachgerade spektakulär.

Genau, der Titel. Ja, denk ich tatsächlich auch oft. Irgendwas für Ärzte ohne Grenzen machen. Mehr für Flüchtlinge tun. Plastik zum Plastikmüll. Viel mehr lesen zu White Privilege. Auch mit den FPÖlern das Gespräch suchen, sonst ist man ja derselbe Ausgrenzer. I can’t help it, aber solang ich so katholisch damit umgeh (also reine Schlechtegewissensproduktion), umarme ich diese Gedanken nicht allzu herzlich, was soll das denn alles ohne Aktion, oder wie Herr Diederichsen flachste: „Links zu sein, ohne naiv zu sein, wäre doch schon etwas.“ Jedenfalls ist das vielleicht der Grund, warum ich auch diesen Aspekt der Autor_innen von I would like to be a better person während der Betrachtung völlig ausgeblendet hatte.

Songs zum Stück:

Fiona Apple, „Better

Version of Me“

Funny van Dannen,

„Genug gute Menschen“

Ivo Dimchev, „One Day“

Kante, „Die Tiere sind

unruhig“

Kendrick Lamar,

„The Blacker the Berry“

The Notwist, „One Step

Inside Doesn’t Mean

You Understand“

Sheryl Crow, „No One Said

It Would Be Easy“

Tocotronic, „Im Zweifel

für den Zweifel“

Yasmo & Die Klangkantine,

„Noel“

Tanzundperformance, du gibst mir so viel!

Marta Navaridas, du bist mir so viele!

Rio

 

Rio Rutzinger 47, Steinbock, geb. OÖ, wohnhaft W. Seit Ende 1980er Frisbee Ultimate (Spieler, Trainer, Zeitungsherausgeber, Veranstalter, Nationalteam, Verbandspräsident), seit Anfang 1990er zeitgenössischer Tanz (ImPulsTanz, danceWEB, Stephen Petronio Company New York, Leitung diverser EU-Projekte, verschiedentlich Juror, vor allem aber der Typ von den Workshops). Bei Eskapismusbedarf Kino- und Konzertgänger (vorzüglich melancholisch) sowie Romanleser. Papa von 2. Leider sehr heikler Allesesser. Linkshänder.

 

 

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