TQW Magazin
Ein Interview von Claudia Heu mit Amanda Piña

Der Entstehungsprozess von Climatic Dances

 

Der Entstehungsprozess von Climatic Dances

Climatic Dances ist der fünfte Teil des Projektes Endangered Human Movements von Amanda Piña / nadaproductions, das sich mit menschlichen Bewegungspraktiken beschäftigt, die seit Jahrhunderten auf der ganzen Welt kultiviert werden. Aufgrund der COVID-19 Pandemie, wurde die Uraufführung im TQW vom 26 März auf Dezember 2020 verschoben. Im Gespräch mit der Künstlerin Claudia Heu gibt sie Einblick in die Hintergründe der Arbeit. 

Vor sechs Jahren startete Amanda Piña das Projekt Endangered Human Movements über menschliche Bewegungspraktiken, die seit Jahrhunderten auf der ganzen Welt gepflegt werden. Daraus hat sich eine Reihe von Performances, Workshops, Filmen, Installationen, Vorträgen, Veröffentlichungen und ein umfassendes Online-Archiv entwickelt, in dem von Vorfahr*innen verkörperte Praktiken – Bewegungen, Tänze und Formen der Welterzeugung – im Kontext des Theaters und des Museums wieder in Erscheinung treten. Durch die Einbeziehung kritischer Perspektiven aus den Bereichen Anthropologie, Geschichte, Philosophie, bildende Kunst, Tanz, Choreografie sowie von zeitgenössisch-traditionellem indigenen amerindischen Wissen kann dieses erneute In-Erscheinung-Treten tradierter Bewegungsformen als Anstoß zur Dekolonialisierung der zeitgenössischen Kunst und Kultur dienen. Der Ansatz umfasst nicht nur zeitgenössischen Schamanismus, sondern auch mündlich überliefertes Wissen, soziales Wissen über Bewegung, Berührung, Heilung, Pflanzen, den Körper, über Wahrnehmung und die Verbundenheit zwischen Lebensformen. Er offenbart rituelles diplomatisches Wissen hinsichtlich der Beziehung zu anderen Wesen.

  

Claudia Heu: Kannst du etwas über die Anfänge der Arbeit an deinem neuesten Stück, Climatic Dances, erzählen?

Amanda Piña: Nach Danza y Frontera wollte ich mich auf Umweltfragen konzentrieren. Ich sprach mit dem österreichisch-mexikanischen Anthropologen Johannes Neurath, der maßgeblich zum Projekt The School of the Jaguar beigetragen und an der gesamten Erarbeitung der Performance The Jaguar and the Snake mitgewirkt hatte. Er empfahl mir, Alessandro Questa zu kontaktieren, einen Spezialisten für Tanz und Klimawandel. Alessandro Questa hat mit den Nahuatl-sprechenden Masewal im nördlichen Hochland von Puebla zusammengearbeitet und ist, wie Johannes, ein Tanz-Anthropologe, der seit über 20 Jahren mit den Masewal deren Tänze praktiziert. Dabei hat er sich auf zwei Tänze spezialisiert: den „Negrito“ und den „Tejonero“. Der Negrito gilt als „afro-mexikanischer Tanz“, der sich aus den Eindrücken der (Nahuatl-sprechenden) Nahuas bei der Begegnung mit versklavten Afrikaner*innen entwickelt haben soll, die auf den Zuckerrohrplantagen arbeiteten. Der Tejonero war angeblich ein Jagdtanz. Jedenfalls gemäß den etablierten Geschichten über die Ursprünge dieser Tänze. Aber Alessandro Questa, der selbst Nahuatl spricht, hat eine andere Lesart/Interpretation entwickelt, die auf umfangreichen Recherchen beruht und das moderne koloniale Narrativ, das in volkstümlichen Büchern zu finden ist, infrage stellt: Er ist der Ansicht, dass diese beiden Tänze eigentlich dazu dienten, in versteckter Form mit den Bergen als Erdwesen in Beziehung zu treten. Ein Erdwesen ist eine Wesenheit, die durch Tanz gegenwärtig gemacht und gemeinschaftlich verkörpert werden kann. Für Alessandro Questa sind Masewal-Tänze Hologramme der Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt. Erdwesen und ihre Verkörperung mithilfe dieser Tänze sollen es den Gemeinschaften ermöglichen, die Handlungsfähigkeit von nichtmenschlichen Wesen wie Bergen, Gewässern, Wäldern oder den Geistern, die diesen Ökosystemen innewohnen, zu verstehen. Die Tanzenden werden zum Berg. Der ursprüngliche Name eines der Tänze, Tipekayomeh, bedeutet eigentlich „Körper des Berges“. Die Masewal glauben, dass alles, das existiert, aus dem Inneren des Berges kommt.

 

Wie hast du deine Recherchen in Mexiko in die Praxis umgesetzt?

Ich arbeitete mit Schüler*innen der Nationalen Schule für Volkstanz in Mexiko. Informant*innen teilten ihr Wissen über die Tänze, und die Schüler*innen setzten sich intensiv mit ihnen auseinander. Als Erstes drehte ich einen Film. Ich arbeitete mit Juan Carlos Palma zusammen, der an der Schule unterrichtet, und wir entwickelten zwei Versionen der Tänze, die die Schüler*innen teilweise in Originalkostümen und teilweise in neuen Kostümen tanzten.

 

Wie bist du es angegangen, als du zum ersten Mal darüber nachgedacht hast, das Projekt am TQW zu zeigen? Es war ja offensichtlich, dass das einiges an Übertragungsarbeit erfordern würde.

Ich dachte, ich würde nicht mit den Originaltänzen arbeiten wie in Mexiko. Also beschloss ich, die Masewal als Bezugspunkt zu nehmen und die Erde mit meinen eigenen Mitteln zu verkörpern und auf meine eigene Art und Weise zum Berg zu werden. Also machte ich mich zu einem Teil des Films, den ich gedreht hatte. Da gab es eine Landschaft, eine Wüste, eine tote Erde, und ich begann, in der Erde zu verschwinden. Ich zog mich weiß an, verwandelte mich in eine lebendige Leinwand und wurde unsichtbar, indem ich die Bewegungen geologischer Strukturen während des unvorstellbar langen Zeitraums seit Bestehen der Erde verkörperte.

 

Mit welcher Landschaft und welchem Berg hast du dich beschäftigt?

Ich habe Bilder vom Mars verwendet, weil ich Extraktivismus zum Thema machen wollte. In dem Gebiet, in dem die Masewal leben, haben Bergbauunternehmen zahlreiche Versuche unternommen, die Gewinnung von Mineralien in die Wege zu leiten. Ich sah mir Filme an, in denen die Masewal zusammen mit anderen Mestizo- und indigenen Gruppen gegen die Bergbauunternehmen vorgingen und sie tatsächlich aufhalten konnten. Sie beschlossen, mehr zu tanzen, weil sie festgestellt hatten, dass ein Ungleichgewicht entstanden war: Die Vögel kommen nicht mehr zur gleichen Zeit wie früher, das Wetter hat sich verändert. Für sie besteht ein Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen und einem Mangel an Opferritualen, einer mangelnden Pflege der sozioökologischen Beziehungen. Die Tänze haben dadurch neuen Antrieb bekommen und leben wieder auf.

 

Das klingt ähnlich wie die Songlines der Aborigines in Australien. Welche Methode hast du verwendet, um mit dem Berg in Beziehung zu treten?

Ich hatte für Teil 3 meines Forschungsprojekts The School of the Jaguar bereits an Formen der Verkörperung gearbeitet, die sowohl tierisch, pflanzlich als auch menschlich waren. Ein Bergwesen zu werden, Geologie zu verkörpern, ist ein ähnlicher Vorgang, nur noch abstrakter. Dazu musste mein Tanzen weniger menschenzentriert werden.

Dann ging ich nach Chile, um meine Mutter zu besuchen, und dort nahm die Sache persönliche Dimensionen an. Auf dem Berg über dem Haus meiner Mutter hatte sich eine Bergbaugesellschaft namens Anglo American angesiedelt. Sie gruben ohne Erlaubnis der Regierung einen acht Kilometer langen Tunnel im Inneren des Gletschers. Jetzt trocknen die Brunnen aus, der Fluss wird zunehmend verschmutzt. Während meines Aufenthalts in Chile hatte ich einen Traum, in dem mir der Apu[1], der Geist des Berges, erschien. Er hatte eine sehr starke Präsenz, ich hatte große Angst. Dann hielt ich mit einer befreundeten Schamanin eine Zeremonie ab und hatte eine weitere Vision des Bergwesens. Danach machte ich einen Spaziergang auf den Berg und sprach mit der Gemeinde. Ich glaube, der Geist des Berges kam zu mir, weil eine Verbindung entstanden war, die nicht mehr nur abstrakt war. Anglo American vergiftet das Wasser, das meine Mutter trinkt, die ganze Gegend ist im Begriff zu vertrocknen und verwandelt sich in eine Wüste, wie in meinem Film. Die Sache hat dadurch eine persönliche Dimension bekommen. Das hat mich sehr mitgenommen.

Es wurde offensichtlich, dass es in meinem Solo um Extraktivismus gehen würde, und darum, ein Verständnis für die Schaffenskraft der Berge, wie z. B. das Hervorbringen von Wasser, Feldfrüchten und Luft, zu entwickeln. Wenn ein Bergbauunternehmen beginnt, das gesamte Ökosystem durch gesundheitsschädigende Verschmutzung zu zerstören und dieses dadurch lebensunfähig wird, spricht man von Produktion, Fortschritt und Entwicklung. Was Berge für die Wirtschaft und das Leben tun, ist unsichtbar, so wie die reproduktive Arbeit von Frauen nicht als Arbeit anerkannt wird. Die Wissenschaft, die meist im Dienst der Moderne/Kolonialität stand und steht, geht von einer Art Trennung zwischen Leben und Nichtleben aus. Was tot ist, ist weniger wichtig und wir können es ausbeuten. Aber man kann nicht sagen, dass Wasser tot ist. Wir sind Kinder des Wassers und unser Leben hängt davon ab. Wenn ich meinen Wasserhahn aufdrehe, trinke ich nicht Wasser aus einer Wasserfabrik, sondern Wasser, das ein Berg im Alpenvorland hervorgebracht hat. Ich bin tief mit dem Ganzen verbunden, das sind wir alle.

In die Brüche gegangene Verbindungen …

Ja, bei all dem geht es um in die Brüche gegangene Beziehungen, die nur scheinbar in die Brüche gegangen sind. Darum, dass diese Krise auch eine Krise des ethischen Denkens ist und dass man sie nicht lösen kann, indem man nur dieselben Gedanken bemüht, die die Krise verursacht haben. Wir brauchen polyphone Stimmen aus verschiedenen Blickwinkeln, und unterschiedliche Auffassungen. Deshalb arbeite ich mit indigenen Wissensformen.

Die Frage, die sich für mich stellt, ist die nach dem Wert von Kunst und Performance, von Repräsentation. Wenn ich mich mit dem Berg beschäftige, bin ich gezwungen, ihm als Lebewesen zu begegnen. In diesem Sinn möchte ich mit Tanz und Choreografie das thematisieren, was uns am Leben erhält; Opferrituale als bis heute aufrechterhaltene Praktiken recherchieren, mehr über sie in Erfahrung bringen und sie dann durchführen, um in die Brüche gegangene Beziehungen wiederherzustellen. Zum Beispiel: „Woher kommt das Wasser? Und: Können wir in Form eines gemeinschaftlichen Opferrituals die Tatsache anerkennen, dass wir Wasser sind?“ Und das wäre dann die Performance. Nicht, dass ich etwas zeige, sondern dass etwas gemeinsam getan wird. Eine Kunst des Benutzer*innenwertes, eine Kunst feministischer Achtsamkeit.

Als eine Geste. Ein Akt.

Genau. Aber wie bringe ich diese beiden Dinge zusammen, um im TQW etwas zu zeigen, das als wirklichkeitsnaher Standpunkt dienen kann?

 

Denkst du, dass das Theater und ähnliche Institutionen überholt sind? Ich meine, es gibt immer noch zu wenig Unterstützung bzw. zu wenige Orte für offene Kunstformen oder alternative Ansichten über Kunst.

Ich glaube, das Theater wird ähnlich wie ein Labor wahrgenommen: als ein geschlossener Raum, abgetrennt vom Beziehungsgeflecht. Meiner Meinung nach sollte in Zukunft jedes Theater eine Abteilung haben, ein Team von Leuten, die wirklich ernsthaft daran arbeiten, Verbindungen zu verschiedenen Communities herzustellen. Es kann nicht sein, dass es immer nur um dieselbe weiße Perspektive bzw. dasselbe weiße Publikum geht. Die Kunst, die wir machen, ist mehr als ein Objekt, mehr als eine Show. Es ist auch eine Form von sensiblem Wissen, und das ist heutzutage enorm wichtig. Die Idee eines bloßen Spektakels ist auf Dauer nicht nachhaltig. Es verkommt zu Kunst als Konsumereignis. Wenn wir mit verschiedenen Communities in Verbindung stehen, können wir eine diversere Form des Arbeitens mit dem Publikum und mit Künstler*innen schaffen, uns mehr Zeit nehmen und tiefer gehen, und dabei außerhalb und innerhalb des Theaters arbeiten. Der Klimawandel ist ein Ansporn, unsere Arbeitsweisen im Kunstbereich zu verändern, sich mehr zu engagieren, aus der Blase herauszukommen und endlich auf dem Boden der Tatsachen zu landen. Die Sache duldet keinen Aufschub.

 Vielen Dank, Amanda.

 

[1] Apu ist ein Quechua-Wort, das einen Schutzberg in den Anden bezeichnet, dessen Wesen den Rahmen westlicher Ontologien übersteigt.

Claudia Heu ist eine in Wien lebende Künstlerin, Performerin und Dozentin. Sie ist in Europa, der Mongolei und den USA tätig. Ihre Arbeit umfasst ortsspezifische Performances, Installationen und Interventionen. Die Zusammenarbeit mit Filmemacher*innen, Aktivist*innen, Friseur*innen, Schauspieler*innen, Busfahrer*innen, Stadtplaner*innen, bildenden Künstler*innen, Nachtwächter*innen etc. gestaltet sich je nach Projekt und Ort neu. claudiaheu.com

 

 
Loading