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Maren Richter über The past is a foreign country von Michikazu Matsune / Jun Yang

TIME IS MAN-MADE oder wie Alexander Kluge sagen würde: „Menschen hausen in ihren Lebensläufen“[1]

 

TIME IS MAN-MADE oder wie Alexander Kluge sagen würde: „Menschen hausen in ihren Lebensläufen“[1]

Macht lässt sich anhand vieler Dinge manifestieren. Um sich endgültig von der Kolonialzeit Japans zu befreien, ließ Kim Jong-un 2015 die Zeit in Nordkorea um eine halbe Stunde zurückdrehen. Ein kreativer Zug nationalistischen Denkens, des Sorgetragens um eine „befreite“ kollektive Identität. Und eine scheinbar große Geste von vermutlich mäßiger Relevanz für die Bürger*innen eines diktatorisch geführten Regimes. Dies sind die Ingredienzien eines gut inszenierten Regierungsstils, bemüht von Personen, von denen wir uns mit unseren Ängsten vor dem Fremden zutiefst verstanden und aufgehoben fühlen, denn sie verteidigen nicht nur unsere Landesgrenzen nach außen, auch innen wird be- und gereinigt und mit Vehemenz als auch Affekt konstituiert.

Narrative – und das Gleiche gilt für die Zeit ebenso wie für die Evidenz – sind auslegbar und veränderbar. Michikazu Matsune und Jun Yang entblättern in ihrer Performance ein Anliegen, das in den letzten Jahren auf vielen Ebenen verhandelt worden ist: die Forderung nach einer Dekolonialisierung unseres Denkens über Erinnerung und Geschichte als lineare, eindimensionale und insbesondere Macht konstituierende Erzählung. Nicht selten wird der „Lauf der Geschichte“ über mainstreamfähige Momente und ihre (männlichen) Helden erzählt, wie etwa die spektakuläre Mondlandung, welche Menschen weltumspannend vor ihre Bildschirme bannte, nicht zuletzt deshalb, weil das Fernsehen erst kurz davor diese Form von bildgewaltiger Distribution ermöglicht hatte. Und wodurch das Öffentliche, ganz nebenbei, das Private invasiv und stetig zu durchdringen begann.

Tatsächlich machte der Kolonialisierungstrieb des Menschen in dieser Nacht einen gewaltigen Sprung. Es war der erste Schritt zur Eroberung des Weltalls oder genauer gesagt einer der ersten Schritte, die jedoch allesamt an Bedeutung verloren hatten angesichts jenes epochalen Augenblicks im Juli 1969. Und der Punkt im Technologiewettlauf des Kalten Kriegs ging an die USA.

„That’s one small step for a man – one giant leap for mankind.“[2]
Oder umgekehrt? A small step for mankind – one giant leap for a man?

Hannah Arendt sieht den Eroberungsdrang (die Vita activa) der Menschheit begleitet von einem zunehmend wissenschaftlichen Vermessungs- und Mobilitätsvermögen als Indiz einer neuzeitlichen Entfremdung von der Erde. Der Blick aus dem Exil im All – konstatiert Arendt zehn Jahre vor der Apollo-Mission – deute darauf hin, dass die Menschen der Erde müde seien und sich auf die Suche nach neuen Wohnplätzen im Universum begäben.[3]

Ob aus „Müdigkeit“ oder aus unermüdlichem Eroberungsdrang, alles dreht sich um territoriales Denken, wie die als Zeitreise angelegte performative Geschichtsstunde durch historische Beispiele und subjektiv erfahrene Geschichten durchexerziert. „Wohin gehöre ich?“ mag darin wohl ein zutiefst persönliches Anliegen sein. Letztendlich wird dieses jedoch von einem politischen „Wohin darf ich?“ orchestriert. Einreiserecht, Ausreiserecht, Aufenthaltsrecht, das Recht auf Mobilität, Identitätspolitik oder eine verblasste Willkommenskultur regulieren unsere Zugehörigkeit und formen sichtbar wie unsichtbar Grenzen – und somit Territorien.

„Territories, claims, and ownership. Belonging to, identity – personal and national.“[4]

Die Bühne selbst bleibt für die Performance minimalistisch: zwei Tische, zwei Stühle und Schautafeln mit Abbildungen großer und kleiner historischer Momente, die mit gesprochenem Text unterlegt werden. Für ihren kritischen wie subtil ironischen Blick auf den menschlichen Drang nach Okkupation und Beherrschen proklamieren Matsune und Yang ein eigenes, wenn auch unbekanntes Land. Das poetische Zitat „The past is a foreign country“[5] verweist bereits darauf, was sich ambivalent durch die gesamte Performance zieht, die Materialität des Im/materiellen und die Im/materialität des Materiellen.

So galten die Weltmeere über Jahrhunderte als internationales Territorium für den Handel, womit der Grundstein des Kolonialismus gesetzt wurde, bis die UN im 20. Jahrhundert Teile des Meeres zu nationalen Territorien erklärte, wodurch wiederum neue Phänomene wie gesetzlose exterritoriale Gewässer mitproduziert wurden. Dazwischen liegen hunderte Dekaden, in denen etwa Ozeane zum Zweck der nationalen Selbstabschirmung zu Mauern werden konnten.

Was ist Geschichte? Was ist deren Zeitstruktur? Wie entsteht Geschichte? Oder wann ist sie bloß ein Mythos? Ist sie ein Objekt? Oder ein Produkt?

Für Walter Benjamin ist unser Geschichtsbewusstsein grundsätzlich falsch, da es im Kern von der Idee des Fortschritts getragen ist. Jedoch weil Geschichte immer nur in der Form des Erinnerns von Vergangenem zugänglich ist und damit Vergangenes immer nur in Form von Geschichten, steht die Vergangenheit genauso wenig fest wie die Zukunft. Vergangenheit und Zukunft sind in gleicher Weise dynamisch, in Bewegung, und in gleicher Weise offen und fragil, so Benjamin. Dies schrieb der Autor im Pariser Exil wenige Monate vor seinem Selbstmord im Sommer 1940. „Über den Begriff der Geschichte“[6] ist ein fragmentarischer Text, von dem angenommen werden darf, dass er nicht für die Veröffentlichung gedacht gewesen war. Dennoch hat man ihn publiziert. Somit wurde paradoxerweise ein privates, unvollständiges Dokument zu einem wichtigen Text der Geschichtsphilosophie stilisiert.

Momente, die von Zufällen oder Partikularinteressen gesteuert werden, gibt es genug in der Geschichte der Geschichte, wie uns eine Stunde lang vor Augen geführt wird. Manchmal treten sie als Rituale der Macht und manchmal als Rituale von Freundschaft bzw. Rivalität auf. Sie brauchen jedoch, wie es scheint, allesamt einen bildlichen Beweis. Und jenen ikonischen fotografischen Moment, der in Zeiten der Massenmedien ungehemmt zwischen den Registern der Fiktion, Authentizität und Fetisch, zwischen Beweis und Manipulation, Kritik und Affirmation wechseln kann. Dennoch eignet sich die Fotografie bis heute hervorragend für die Konstruktion kultureller oder persönlicher Erinnerungsräume. Selbst wenn der Fotografie ebenso wie Orten kein Gedächtnis innewohnt, sind sie imstande, Erinnerungen zu festigen und zu beglaubigen. Sie verkörpern eine Dauer, die weit über das individuelle Erinnerungsvermögen, eine Familiengeschichte oder eine politische Ära hinausgeht.

Und das ist in gewisser Weise Teil des Dilemmas von Geschichte, Zeit und Evidenz und vom Versuch, darin zu lesen.
Die Performance endet folgerichtig mit den plakativen Worten:

J: Yeah … the world is an unfair place.
M: What a shame …

 

[1] Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Frankfurt am Main 2000, S. 11.
[2] Aus The past is a foreign country.
[3] Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 2002.
[4] Aus The past is a foreign country.
[5] Das Zitat ist die erste Zeile des Romans The Go-Between von L. P. Hartley, in dem sich ein Mann an seine Jugend zurückerinnert.
[6] Hannah Arendt übergab das Manuskript in New York an das emigrierte Frankfurter Institut für Sozialforschung. Dieses veröffentlichte den Aufsatz 1942 im Rahmen des Bandes Walter Benjamin zum Gedächtnis als Hektografie und in geringer Auflage.

Maren Richter ist eine österreichische Kuratorin und Researcherin. Bis vor Kurzem war sie in Malta tätig, wo sie das Großprojekt „The Island is What the Sea Surrounds“ für die Europäische Kulturhauptstadt Valletta 2018 realisierte. U. a. mit der Kollaboration „Grammatik der Dringlichkeit“ untersucht sie seit geraumer Zeit Raumpolitik und das Phänomen von „flüchtigen Territorien“.

 

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