TQW Magazin
Laia Fabre über The tongue tracing the hand tracing the earth von Mirna Bamieh

Zungen sind cool

 

Zungen sind cool

Melanzani, Granatäpfel, Linsen, Olivenöl, Chilis, Kirschtomaten, Zitronen, Zwiebel, Dillsamen, Lamm, Kokosnüsse, Sesamsamen und … Das sind einige der vielen Zutaten, die Mirna Bamieh heute Abend im Tanzquartier verwendet hat, um ein köstliches Menü für 26 Gäst*innen zu kreieren. Ich war eine von ihnen, und ich war bereit, offen und freute mich auf das Öffnen der Studiotür, um eintreten und Mirnas Geschmack bewundern zu können. Sie begrüßte uns in einem bunten traditionellen palästinensischen langen Kleid und wir nahmen an dem überwiegend gut gedeckten Tisch, den sie vorbereitet hatte, Platz. 2017 gründete Mirna Bamieh ein Livekunst-Projekt namens Palestine Hosting Society. Das Ziel: der traditionellen Esskultur von Bamiehs Heimat Palästina nachzuspüren, sie zu untersuchen und sich auf Gerichte zurückzubesinnen (die im Begriff sind, aus dem Gedächtnis zu verschwinden). Zutaten und Lebensmittel, die nicht in Vergessenheit geraten sollten. Es handelt sich dabei augenscheinlich um ein Statement von wahrhaftiger und tiefer emotionaler Bedeutung. Sich in Verführung zu versuchen ist harte Arbeit, und Mirna scheint sehr versiert darin zu sein, uns in ihren Bann zu ziehen und mit ihrem Charme zu betören. Sie verwendet während der gesamten Mahlzeit die direkteste und unverfänglichste Form von Sprache. Sie ist die Dirigentin ihres Orchesters. Eine Geschichtenerzählerin für jede Zutat bzw. jedes Gericht, die deren Bezugsrahmen, die damit verbundenen Erinnerungen und Wahrnehmungen erläutert. Geschichten, die wir von einer Generation zur anderen weitergeben. Das komplette Abendessen dauert circa drei Stunden. Wir beginnen mit einer Reihe von Vorspeisen: gelbes Kurkuma-Brot, gemischte Oliven, fermentiertes Gemüse oder der ausgepackte hausgemachte Labneh – ein Joghurtkäse, dem durch Sieben die Molke entzogen wird, was ihm eine cremige, dickflüssige Konsistenz verleiht. Das alles schmeckt wunderbar und wird in kostbaren Keramikobjekten serviert, die von der Künstlerin selbst hergestellt wurden. Eines dieser interessanten Objekte ist der große, schwere Dekanter, der aus vier miteinander verbundenen Gläsern besteht. Zwei Personen müssen ihn gemeinsam benutzen, um den rubinroten Hibiskussaft zu servieren. Magische Momente der Wahl des richtigen Zeitpunkts und des Mischens unter Fremden, die miteinander interagieren, in Beziehung zueinander treten und einander kennenlernen müssen. Als Hauptspeise kredenzt Mirna zwei regionale Varianten von Maftoul – palästinensischer Couscous – als Beilage zu einem niedrig gegarten Lammeintopf mit Schalotten, der mit einer Zitronen-Chili-Sauce oder fermentierten Salzzitronen gewürzt wird. Da 6 bis 8 Portionen in großen Keramiktöpfen serviert werden, werden die Vegetarier*innen abseits der anderen ans Ende des langen Tisches gesetzt. Ein köstliches Vergnügen. Im Hintergrund spielt während des gesamten Essens eine Klangkomposition von Joshua Bearwald und Christie Echols. Dann wird es, wie das nun einmal so üblich ist, Zeit für die Nachspeisen. Dazu müssen wir aufstehen und zu einem Beistelltisch gehen, auf dem viele schöne Keramikobjekte und ein fantastischer Zimtreispudding in Kombination mit einem palästinensischen Leckerbissen aus Johannisbrotsirup mit Sesam und Schwarzkümmel-Tahini drapiert sind. Gemeinsam entscheiden wir, wie wir diese Köstlichkeiten auf dem großen Tisch verteilen und dann kosten wir ihre wunderbaren Aromen. Wahrlich ein Gaumenschmaus. Im Lauf des Abends spüre ich eine kleine Flamme in mir auflodern. Sie breitet sich über meinen ganzen Körper aus und tanzt in meiner Brust. Sie steigt in meiner Kehle auf, klettert auf meine Zunge, streicht über meine Lippen und steht vor mir, schaut in mein Gehirn und lächelt. Ein Blinzeln und sie ist weg, zurück in meinem Inneren, in geduldiger Erwartung, von Neuem entzündet zu werden. Besonders angetan hat es mir der Karkadeh, der Hibiskustee. Heute Abend hat das Essen meine Zunge zum Schmelzen gebracht! Mirna hofft, dass sie unsere Sichtweise auf Palästina verändert hat und schließt den Abend mit dem Wunsch, den Nationen, die nicht gehört werden, eine Stimme zu geben.

 

Laia Fabre wurde in Barcelona geboren und lebt in Wien. Sie ist eine multidisziplinäre Künstlerin, deren Praxis eine ungehemmte, spontane und energetische Dynamik ausstrahlt. Sie macht Kunst in ausgesprochen unterschiedlichen Formaten. Performance, Video, Choreografie, Zeichnung, Malerei verbinden spielerische Energie mit einer leuchtenden und optimistischen Farbpalette. Sie hat ihr Studium an der Akademie der bildenden Künste Wien mit einem Master of Fine Arts abgeschlossen. Ihre künstlerische Arbeit zeigt die Gewohnheiten und Stereotypen ihrer Umgebung auf. Ihre Werke sind ironisch, schrill und verwenden einen humoristischen Diskurs, der das Alltägliche in Augenschein nimmt. Die Intensität ihrer Arbeit entspringt einer Begeisterung für Zeitgenoss*innenschaft. Die Botschaft hat Vorrang vor der Technik in ihren Werken – die stets Salz in die Wunden der Probleme und Widersprüche in unserer Welt streuen. @laiiafabrre, notfoundyet.net

 

 
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