TQW Magazin
Diane Shooman über two steps back von Tanz Company Gervasi

“Two Steps Back” in drei Schritten

 

“Two Steps Back” in drei Schritten

Wenn man die gut gekleideten, grazil-gelenkigen jungen Menschen betrachtet, die sich vor pastellfarbenen Graffitiflächen versammeln (und wer übrigens meint, „Pastell“ und „Graffiti“ sei ein Widerspruch in sich, könnte recht haben) und einen misstrauisch-feindseligen Blick aufsetzen, so als ob sie mit einem drohenden Angriff rechnen müssten, könnte man sich durchaus kurz fragen, ob man hier in einer Neuinszenierung des Bandenkriegs aus der „West Side Story“ in einer unpassenden Besetzung sitzt. Aber Moment einmal: Künstler*innen sind potenziell der Feindseligkeit ausgesetzt – und zwar der des Publikums, indem wir über sie urteilen! Und sind Tanzensembles nicht so etwas wie Gangs? Als ob sie meine Gedanken lesen könnten, fügt sich Elio Gervasis Gang plötzlich zu einer Formation zusammen, die sich amöbenartig fortbewegt, wobei die Beteiligten, um die Position an der Spitze und unsere Aufmerksamkeit rangelnd, einander aus dem Gefüge stoßen. Dabei geht es weder theatralisch noch camp zu; die aufgebrachte Gruppe bewegt sich drängelnd und schiebend weiter, bis das kleinste Mitglied zu Boden geht.

Diese metaphorische Szene liefert das Thema des Abends: Wie kann man ein Stück gestalten, das räumlich, bewegungstechnisch und dynamisch interessant ist, ein zusammenhängendes Ganzes ergibt und gleichzeitig Tänzer*innen verschiedener Stile mit unterschiedlichen Fähigkeiten Raum gibt, um sie zu fordern und sie gleichzeitig mit ihrem besonderen Können brillieren zu lassen? Denn letztlich sind sie und ihre Bewegungsqualitäten ja das Material, mit dem man arbeitet! Wie setzt man sie in Szene, auf dass sie im Dienst der Sache stehen, aber dabei niemand kompromittiert, bloßgestellt oder unsichtbar gemacht wird?

Schritt eins: Man nehme selbstbewusste, sensible Bewegungskünstler*innen, die interessante Performer*innen sind, selbst wenn sie nicht unbedingt perfekte Tänzer*innen sind, und texturiere mit ihren Einschränkungen und Eigenheiten die Choreografie.

Schritt zwei: Man lasse sie alle etwas tun, das sie noch nicht völlig beherrschen, und ebenso etwas, das sie*er jeweils besser kann als alle anderen. Man lasse sie ihre speziellen Fähigkeiten den anderen beibringen.

Schritt drei: Man trete von sich selbst „zwei Schritte zurück“ und hole einen Dramaturgen ins Boot, um eine objektive Sicht auf das Stück in seiner Gesamtheit zu behalten.

Das Ensemble versucht sich an Flamenco. Highlights: Wenn ihre Pseudo-Flamenco-Moves plötzlich in Riverdance übergehen. Wenn das Schlagen und Stampfen sich in ein sanftes, stilles Schleichen verwandelt. Wenn die Tänzer*innen zusammenkommen, auseinandergehen und wieder zusammenkommen. Wenn der Raum mit unterschiedlichen Texturen, Dynamiken und Tempi, Höhen und Tiefen aufgeladen ist. Es gibt zwei atemberaubende Tänzer*innen in diesem Stück: Der Herr im blauen Rautenmuster-Hemd stampft wie ein brodelnder Vulkan in Gestalt eines eleganten Gentlemans, wobei seine darauffolgenden fließenden Bewegungen kraftvoll in die Tiefe des Raumes schießen. Die Dame im braunen T-Shirt mit den Zöpfen gibt mit fluider Klarheit dem dreidimensionalen Raum unentwegt neue Formen. Die beiden sind herausragend, allerdings ohne dabei die anderen schlecht dastehen zu lassen. Der Mann im weißen Hemd z. B. ist besonders ansprechend; nicht weil er ein großartiger Breakdancer ist, was (noch) nicht der Fall ist, sondern weil er mit fröhlicher Inbrunst alles ausprobiert und sich vor nichts fürchtet. Die Überraschung des Abends ist die Dame im roten T-Shirt. Ihre mustergültige Arbeit im Ensemble steht in frappantem Gegensatz zur unbändigen Energie ihres Solos, in dem sie die vermeintlich aufgrund ihrer Größe vorgegebene Senkrechtstellung aufgibt, um in der Waagrechten auf wunderbare Weise herumzuwirbeln. Sie vergegenwärtigt uns, nicht voreilig ein Urteil über die Fähigkeiten oder das Potenzial einer Tänzerin, eines Tänzers, unserer selbst oder wessen auch immer zu fällen. Das ist die Moral von der Geschichte, das erhebende Geschenk, das wir von dieser Performance mit nach Hause nehmen dürfen.

Tänzer*innen verbringen ihre Vormittage beim Training, ihre Nachmittage bei Proben und ihre Abende auf der Bühne, arbeiten dabei unentwegt an ihrer Technik und versuchen, ihr ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Während Rezipient*innen (von sich) erwarten, Musik zu erleben und zu genießen, anstatt sie zu „verstehen“, meinen viele, sie müssten Lyrik und Tanz eher „verstehen“ als erleben. Diesen Kunstformen wird daher immer wieder vorgeworfen, sie seien elitär, wenn die betreffenden Künstler*innen ihr Leben damit verbringen, ihre Technik und Kunstfertigkeit zu verfeinern und sich beharrlich damit zu beschäftigen, und wenn deren Arbeit nicht darauf reduziert werden kann, „was sie aussagen will“. Entschuldigung, aber würden Sie Geld dafür zahlen, ungeübten Musiker*innen dabei zuzuhören, wie sie ungeschickt auf ihren Instrumenten herumhantieren? Besteht ein Widerspruch zwischen Authentizität, Identität und Inklusion einerseits und dem Erforschen und der Beherrschung verschiedener Formen, Techniken und Stile andererseits?

In letzter Zeit werden sowohl Dichter*innen als auch Tänzer*innen weniger als einzigartige Stimmen, sondern eher als Wortführer*innen einer bestimmten kulturellen, sozialen oder demografischen Gruppe angesehen, und ihre Lyrik oder ihr choreografisches Schaffen wird allein nach dem „Inhalt“ definiert, als ob es sich dabei um eine Autobiografie, eine soziologische Studie oder eine Dokumentation handeln würde und nicht um ein der Vorstellungskraft entsprungenes Werk. Es hat etwas Überhebliches, Künstler*innen (oder wen auch immer) vor allem in Bezug auf ihren biologischen oder sozialen Hintergrund zu definieren.

In seinem Essay „Don Quixote or the Art of Becoming“ reflektiert der Autor Antonio Molina über die Gefahr, Identität und Kultur als solche mit einer Örtlichkeit gleichzusetzen, anstatt sie als etwas Individuelles und Persönliches anzusehen, das sich laufend durch Erfahrung und (Selbst-)Bildung entwickelt.

„Zur Zeit meiner Kindheit in einer kleinen spanischen Provinzstadt war Kultur etwas, das man durch persönlichen Einsatz erlangte, durch Lesen und Lernen, gepaart mit einem sehr ausgeprägten Willen, die Welt um sich herum besser zu verstehen, insbesondere Teile der Welt und Erfahrungsbereiche, denen man im täglichen Leben nicht einfach so ausgesetzt war. Es wurde erwartet, dass man selbst Kultur erwirbt, so viel lernt, wie es die eigene Intelligenz zulässt – darum ging es in der Schule und in der Erziehung. Heute ist Kultur nicht etwas, das man sich erarbeiten muss, um es zu erlangen, es ist vielmehr das ursprüngliche Umfeld, in das man geboren wurde, oder das längst verlorene volkstümliche Erbe, das es wiederzufinden gilt. Die Bedeutung des Begriffs hat sich verlagert: von einem Privileg zu etwas Inhärentem, von einer vorübergehenden Beschaffenheit zu einer anthropologischen. Kultur ist nicht etwas, zu dem man sich freiwillig, vielleicht sogar eigenwillig entscheidet, sondern etwas, das es einer*einem selbst und den eigenen Vorfahren seit Anbeginn einer gemeinsamen und oftmals unantastbaren Vergangenheit bestimmt war zu sein. Mir widerstrebt das zutiefst.“[1]

Jennifer Homans, die Verfasserin von „Apollo’s Angels“[2], dem besten Buch zur Ballettgeschichte überhaupt, stellt mit Bedauern fest, dass heutzutage scheinbar nur wenige Tänzer*innen die individuellen Ballettstile, wie sie am Bolschoi- oder am Mariinski-Theater, vom Königlichen Dänischen Ballett, vom Royal Ballet, vom Ballett der Pariser Oper oder von Balanchines New York City Ballet entwickelt wurden, tatsächlich erlernen und meistern; vielmehr scheint es, als ob die meisten eine Art Mischform anstreben, was einen Verlust der stilistischen Vielfalt im Ballett zur Folge hat. Ein Hoch auf die Tänzer*innen, die eine bestimmte Tradition und einen Stil meistern und ihn mit ihrem persönlichen Bewegungscharakter beleben! Ein Hoch auf die Tänzer*innen, die sich mit unterschiedlichen Tanzsprachen auseinandersetzen, sie in sich aufnehmen und zusammenführen. Nieder mit dem Dogma und vorwärts mit der Diversität!

 

[1] Molina, Antonio Muñoz. Don Quixote or the Art of Becoming. Hudson Review, NY 2015.
[2] Homans, Jennifer. Apollo’s Angels: A History of Ballet. Random House, NY 2010.

 

Diane Shooman, eine ewige Optimistin, lebt und schreibt in Wien. PhD und erste Unterrichtserfahrungen in Vergleichender Literaturwissenschaft an der Brown University; Professuren am Oberlin College, der Clark University und am Skidmore College. Unterrichtet interdisziplinäre Kurse an der Kunstuniversität Linz und der FH Technikum Wien sowie von 2008 bis 2010 an der Hollins University/American Dance Festival MFA-Programm. Diane hat für den Falter und corpusweb.net geschrieben, und hat kürzlich die Keynote-Präsentation „Dance in the Circular City“ bei der internationalen Konferenz der Austrian Studies Association gehalten. Dianes Leidenschaft für den Tanz führt sie zur Wiederentdeckung und Auseinandersetzung mit den wahrnehmenden Fähigkeiten des bewegten Körpers in Zeiten, da dieser vom direkten Kontakt zur Außenwelt oft durch Fenster oder Bildschirme abgeschnitten ist.

 

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