TQW Magazin
Lilo Nein über No Title von Mette Edvardsen

Über Turnschuhe überhaupt und über die Turnschuhe der Performerin

 
Waldlichtung in Sonne

Über Turnschuhe überhaupt und über die Turnschuhe der Performerin

No Title von Mette Edvardsen ist kein unbetiteltes Stück. Die Performance ist mit einer Negation betitelt, welche zugleich künstlerische Strategie und Programm ist.

Titel, die sowohl einen ersten Einstieg als auch Bedeutungshinweise zur Erschließung von künstlerischen Werken bieten, sind kunsthistorisch im Verhältnis von Sprache (Titel) und Bild (Gemälde) verankert. Sie bieten auch von künstlerischer Seite eine Spielwiese für Auseinandersetzungen mit den Funktionen von Sprache an. Marcel Duchamp bezeichnete den Titel beispielsweise als unsichtbare Farbe. Der kroatische Konzeptkünstler Vlado Martek nennt seine erste Retrospektive im mmsu in Rijeka 2019 „Exhibition with Many Titles“. Dieser Titel suggeriert, dass es mehrere Wege, Einstiege, Interpretationen und Lesemöglichkeiten der Ausstellung und der darin versammelten Arbeiten gibt. Diese rezeptionsästhetische Forderung erhält die Tiefe ihrer Brisanz aber erst durch eine erkenntnistheoretische Fokussierung der Frage, wie Bedeutung zwischen Bild und Sprache in gewissen historischen Dispositiven des Abbildens und Darstellens zirkuliert. No Title stellt sich dieser Frage.

Mette Edvardsen lässt ihr Stück mit einer Negation beginnen. Kein Titel. Das Stück beginnt. Ich befinde mich in diesem nicht definierten Raum, als die Performerin die Bühne betritt und in sachlicher Tonlage verlautbart: „The beginning is gone. The space is empty, and gone.“ Es gibt keinen Anfang, keinen Raum. Eine Art von Schwindel entsteht in meinem Körper. In welchem Universum befinden wir uns?

Dan Graham beschreibt 1975 in „Performer/Audience/Mirror“, einer der frühen dokumentierten Arbeiten der Performancekunst, die eigene körperliche Präsenz, Bewegungen und räumliche Verortung als Performer sowie das anwesende Publikum mit seinen Worten und thematisiert damit den gemeinsam erlebten Zeit-Raum dieser Kunstform in ihrem relationalen Charakter. Auch Edvardsen, die ihren Text selbst performt, benennt Dinge, die mit Konventionen des Theaters zu tun haben. Jedoch sind die Worte vorformuliert und beziehen sich auf die Vorstellung im doppelten Sinn – die Theatervorstellung und die Vorstellung der Worte, die durch das programmatische „No“ im Augenblick des Auftauchens gleich wieder zerschellen: „Der Feuerlöscher, Leute, die im Dunkeln sitzen, und das Geräusch von Regen, ‚gegangen‘. Kugelschreiber, Lippenstift, Kaugummi, Schlüssel, Geldbörsel und Handy, abgedreht eine Minute vorher, ein Jahr nachher […], ‚vergangen‘.“

Mit dem Anrufen all dieser Vorstellungen und damit verbundenen Konventionen macht Edvardsen das „zähe Problem der menschlichen Gefangenschaft in der Sprache“[1] sichtbar, könnte man mit Karen Barads repräsentationskritischen Worten sagen. Die Sprache wird in ihrem ineffizienten Umweg über die Vorstellung der Dinge in unserem Verstand vorgeführt. Der Graham’sche Spiegel, welcher die Reflexion des performenden Subjekts zum Gegenstand hatte, ist in Edvardsens Arbeit „verschwunden“, denke ich. Cool! Walter Benjamin schwebt bereits 1917 in seinem Aufsatz „Über das Programm der kommenden Philosophie“[2] eine Erkenntnistheorie vor, welche die Objekt-Subjekt-Unterscheidung hinter sich lässt. Diese bleibt allerdings durch den Bezug auf die Philosophie Kants in abstrakter Ferne. Gekommen sind in der Zwischenzeit mit feministisch-posthumanistischen Wissenschaftstheoretiker*innen wie Donna Haraway oder Karen Barad viel konkretere Betrachtungsweisen, die sich performativ in der Welt zu situieren suchen.

Die Performerin auf der Bühne sagt: „Me is not gone.“ Sie bleibt noch etwas.

Ich mag die neutrale Tonlage.

„Das ‚Ich‘ ist eben nicht nur seine Vorstellungen“, denke ich, während die Performerin beginnt, uns systematisch all jener Dinge, die uns physische Orientierung schenken, zu berauben: Vorder- und Hintergrund „gegangen“, die Decke, die Ecken des Raums, Linien im Raum, Distanz, Zentralperspektive, Punkte, Linien, Linien, die Punkte verbinden, der Uhrzeigersinn „vergangen“. Auch die Kategorien, mit denen wir (durch) unser Denken durch Raum und Zeit navigieren, wie Referenzen, Unterscheidungen, Logik, Fragen, Zahlen und Zählen, innen und außen, sind vom paradoxen Spiel des Anwesend-, weil Abwesendseins betroffen und sind „verschwunden“.

Was neben den offensichtlichen Fragen, wie wir eigentlich zwischen Denken und Sein, Handeln und Urteilen, Wahrnehmung und ihren Konditionierungen unterscheiden, bleibt, für den Moment, ist die Stimme der Performerin. Nicht die Sprache in ihrer repräsentationalen Funktion, sondern in ihrer verbindenden Eigenschaft des Ausgesprochenwerdens zeigt sie, wie materielle Körper und Räume, abstrakte Vorstellungen und konkrete Dinge im Moment des Hier und Jetzt miteinander verbunden sind. Ihre, unsere und Grahams objektive, weil subjektiv-situierte Wahrnehmung als Basis jeder Erfahrung und Äußerung ist angesprochen.

Die Turnschuhe, die am Rande der ansonsten leeren schwarzen Bühne stehen, erinnern mich daran, dass bei Walter Benjamin die Sprache des Menschen nicht die einzige Sprache ist. In „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ spricht er von einer Sprache der Dinge.[3] „Dinge, die nicht sprechen, ‚nicht mehr vorhanden‘“, kommentiert die Performerin in diesem Moment meine Gedanken. Benjamins metaphysisch-magischem Sprachverständnis folgend kommt man von theatersemiotischen Assoziationen ab. Nicht wovon die Schuhe sprechen, sondern die Sprach-Schuhe in ihrer Unmittelbarkeit sind gemeint. Die komplexen sprachtheoretischen Überlegungen konfigurieren ein vorparadiesisches Sprach-Denken, welches der reinen Erkenntnis des Namens entspricht. Den schöpferischen Akt, die Dinge zu benennen, mit welchem sich der Mensch über die Natur, Pflanzen, Dinge stellt, verweigert Edvardsen, indem sie ihre Arbeit No Title nennt. Diese Geste stellt ihre Sprache neben die Sprache der Turnschuhe.

Beide stehen auf der Bühne. Wir befinden uns im Theater. Der durch den Schwindel verloren gegangene Boden erscheint wieder. Das Stück ist zu Ende. „Die Illusion gegangen.“ Die Performance bleibt in Erinnerung.

 

[1] Karen Barad, Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, Berlin 2012.
[2] Walter Benjamin, „Über das Programm der kommenden Philosophie“, in: Walter Benjamin. Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt am Main 1965.
[3] Walter Benjamin, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, Ditzingen 2019.

 

Lilo Nein hat eine Praxis als Sprach- und Performancekünstlerin. Sie studierte bildende Kunst an der Akademie der bildenden Künste Wien und künstlerische Forschung an der kabk – Koninklijke Academie van Beeldende Kunsten, Den Haag / Universität Leiden. Derzeit ist Lilo Nein Senior Scientist am VALIE EXPORT Center Linz_Forschungszentrum für Medien- und Performancekunst.

 

 
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