TQW Magazin
Fanti Baum über BONES and STONES von Claudia Bosse

Unverklungen

 

Unverklungen

Stein:

altindisch styâyate, „gerinnt, wird hart“
griechisch stía, „Kiesel“; stéar, „Talg“
lateinisch stîria, „gefrorener Tropfen“

altindisch amaráh, „steinig“
altindisch ásmâ-, „Stein, Fels, Himmel“
awestisch (altiranisch) asman-, „Stein, Himmel“[1]

 

Gaia ringt mit dem sie Umgebenden

Am Ende tritt Marcela San Pedro aus dem Hintergrund auf die Bühne, den nackten Körper in floral bedruckte Decken gehüllt. Fast scheint es so, als wäre sie selbst Natur, Mutter Erde, Gaia, die von der Hinterbühne in unser Bewusstsein tritt und mit ihr all die drängenden Fragen nach einem ökologischen Zusammenleben. Eigentlich war der Blick gerade den fünf anderen großartigen Frauen gefolgt, die nach zweieinhalb Stunden das erste Mal die Bühnenfläche nach oben, zum imaginären Himmel der Halle G, öffneten. In einer Art Prozession schreiten sie nun die Treppe hinunter, jede eine Biosphäre im Arm, um der Landschaft neues Leben zu übergeben.

Marcela San Pedro wirft ihre Umhänge kopfüber nach vorn, ringt mit den Stoffen und Gurten, kämpft mit dem sie Umgebenden. Ein eindrückliches Bild, eine kosmische Bewegung gar, die Chaos erzeugt und Gaia von dem befreit, was ihr die Menschen aufgetragen, eingeschrieben haben. Eine Bewegung, die uns der Instabilität der Erde aussetzt, ein großes Durcheinander herstellt. Indes ist sie umgeben von Jahrmillionen alten Steinen, die da sind und erst mal: nichts tun. Doch gerade hier, in ihnen, liegt die Energie des ganzen Abends begründet: In die Steine eingeschrieben ist Bewegung – als geologischer Prozess, wie in unsere Sprache. Geologische Kräfte haben in Form von Wärme, Bewegung, Gravitation, Druck und Zeit zu Härte und Dichte der Steine geführt, genauso lässt sich etymologisch das Wirken von Kräften nachvollziehen: als gefrorener Tropfen oder als etwas, das gerinnt, hart wird. Bewegung und Energie, die unserem Erleben von Zeit unzugänglich bleiben, informieren die Körper der Performerinnen. Auch uns Zuschauenden ist dieser Perspektivwechsel aufgetragen: Wie verändert die Zeit der Steine unser Empfinden von Gegenwart? Nichts, was sich ohne Weiteres beantworten ließe, noch komplizierter, die Konsequenzen für das eigene Schreiben auszuloten: Wie lässt sich bei diesem exzeptionell tollen Ensemble aus sechs Frauen unterschiedlichen Alters (24 bis 78 Jahre) aus der Perspektive der Steine denken, schreiben? Anders gewendet: Wie lässt sich Landschaft relational denken?

 

mise en perspective – in Perspektive rücken

Niemand bewegt auf einer Fläche nichts. Vielleicht trägt dieser denkbare Nullpunkt ein anderes Verhältnis zwischen Mensch und Stein in sich und öffnet das Theater für einen anderen Blick auf die eigenen Grundsätze. Auf einer beinah leeren Fläche tief unter der Erdoberfläche, quasi zwischen den Gesteinsschichten des Wiener Untergrunds, versammelt sich das Publikum zur Uraufführung von BONES and STONES, findet sich wieder inmitten nicht zu durchblickenden Nebels. Und erst einmal geschieht: nichts. –

Nichts; – außer dass man einer radikalen Undurchsichtigkeit ausgesetzt ist. Eine Undurchsichtigkeit, die den ganzen Abend nicht weichen wird – als Notwendigkeit zur Desorientierung. Weiße Nebelschwaden entsetzen gewohnte Blickregime. Einzig die Materialität der Steine, der Körper und Knochen, die wuchtige Tiefe oder die hohen Spitzen des Sounds, das uns umfassende Gelb und später die Kälte des Lichts vermögen die Undurchsichtigkeit vereinzelt zu durchbrechen, zu durchschneiden, als wären sie selbst Probebohrungen in die Sedimentschichten. Eine beinah leere Fläche im tiefen Untergrund des Theaters, um uns unseren Ort im Kosmos wieder neu vorstellen zu können. Und im Steinbruch die Unterseite des Meeres zu erblicken.

 

se rassemble – wie sich all das versammelt

Landschaft oder Steinbruch. Nach und nach geben sich zwei kegelförmige Haufen aus Ziegelsteinen zu erkennen, aus denen es herausnebelt. Trotz der vermeintlichen vulkanischen Klarheit wird das Prinzip des mehrfachen Umstülpens unserer Wahrnehmung oder mehr noch unserer Beziehung zur Welt in der choreografischen Erzählung zentral bleiben. Schicht um Schicht wird im Verlauf des Abends in die Fläche eingezogen, in die Leere eingetragen, – aber zugleich immer auch abgetragen, zurückgenommen, uns entzogen werden. So ist diese Erzählung alles andere als chronologisch, immer wieder scheint ein Zustand in den anderen zu kippen, die Sequenzen, Ebenen, Logiken, Schichten sich zu überlagern: mythische Konstellationen, wissenschaftliche Erdgeschichte, mineralische Wolken, umgeben von verletzbaren Körpern, denen der Grund entzogen ist und die doch der Schwerkraft trotzen. Das für den Menschen schwer Vorstellbare wandert als Stimme durch den Raum und öffnet den Horizont der Choreografie: Nimmt man ein Molekül zu verschiedenen Zeiten der Erdgeschichte in den Blick, dann werden Leben und Nicht-Leben, organisches und anorganisches Material austauschbar, einmal ist es Bestandteil eines Steins, ein anderes Mal eines Käfers, einer Qualle, eines Baums und schließlich eines fossilen Brennstoffs wie Öl. Vulkane sind in diesem Transformationsprozess entscheidende Akteure, der Mensch lediglich in seiner mineralischen Verwandtschaft zwischen Steinen und Knochen auszumachen. „Realität“, wird viel später Carla Rihl in den Raum sprechen, „besteht aus Prozessen und nicht aus materiellen Objekten.“ Aber wie lässt sich von dem erzählen, das sich in die Steine und die Knochen eingelagert, eingeschrieben hat – von den Abdrücken der Körper im Sedimentgestein und von den Abdrücken der Steine auf unseren Körpern? –, in diesen verrückten zeitlichen Dimensionen, die uns von den Steinen trennen?

 

se renverser – Prozesse des Umstülpens

Während sich all das inmitten des Nebels zu denken gibt, ist das Publikum längst nicht mehr allein im Raum, selbst porös wie dieses Gestein, ist es durchdrungen von den Körpern der sechs Performerinnen – Anna Biczók, Myrthe Bokelmann, Anita Kaya, Carla Rihl, Marcela San Pedro, Christa Zuna-Kratky –, die nach und nach die Fläche betreten haben, als nackte Gestalten, Geschöpfe die Landschaft besiedeln, relationale Gefüge halten, das gegenseitige Involviert-Sein austarieren. Gerade als sich ein Gleichgewicht der Kräfte herzustellen scheint, verändern sich Raum und Körperlichkeit radikal: für die Dekonstruktion des aus Stein Gebauten. Ziegel um Ziegel tragen die sechs Frauen das kegelförmige Bauwerk ab, als hantierten sie mit Bausteinen des Kosmos. Zugleich verweist die Schwerkraft der Steine auf die Kraft der Körper, ihre Arbeitskraft, genauso wie auf unsere Ausbeutungsverfahren gegenüber der Natur. Das Vulkangestein bildet die Bühnen-Landschaft: Versatzstücke zum Sitzen. Indes ist dies ein wundervoll poetischer Moment: das Klackern der Ziegelsteine ist für lange Zeit das Einzige, was man hören wird im leuchtenden Gelb der Gasentladungslampen, wie Klänge eines Rituals. Ein Tun, das in beeindruckender Einfachheit den ganzen Raum seiner Theaterhaftigkeit enthebt – umwendet für sein Anderes. Einzig unterbrochen von ersten dunklen Tönen der Subwoofer. Überhaupt ist das Live-Environment von Günther Auer kongenial: Immer wieder öffnet es den Raum, erzeugt Durchlässigkeiten, ruft Unsichtbares auf, entwirft eine Um-Welt, die über die eigenen Imaginationsräume hinausreicht. Unbemerkt haben sich die Körper dem Vorgang entzogen, sich stattdessen versammelt als versetzt zueinander liegende Landschaft am hinteren Bühnenrand. Alleingelassen im Raum, müssen die Zuschauenden mit Stille, Nicht-Geschehen und dem Entzug der Körper zurande kommen, – bis sich die Landschaft als sich bewegende Skulptur und Organismus zeigt und irgendwann durch den Raum zu manövrieren beginnt. Doch auch dieser Moment wird kippen. Das Material zeigt die Veränderung an: Aus dem Haufen heraus greifen sich die Frauen grau quietschende Plastikumhänge, schnüren sie je anders um die nackten Körper, wappnen sich gegen Zugriffe und formen zugleich Bilder, die Szenen der Gewaltgeschichte aufrufen. Körper als bloßes Material, hin und her geschliffen, aufgetürmt, ihrer Menschlichkeit beraubt – im grellen, kalten Gegenlicht. Doch gewissermaßen lässt sich im Nebel so Folgendes erkennen: Körper, Material, Sound und Licht überlagern sich wie Gesteinsschichten und verschieben sich als fortwährender Prozess gegeneinander: – als Übereinandergestapeltes differenter Zeiten.

 

sich verlandschaften – Chor der Steine

Ein Stein kommt durch den Nebel gerollt, ein anderer wird mit Umsicht getragen, immer mehr treten auf, werden gehalten, gehoben, gestemmt, umfasst, gezeigt, geteilt –. Sie werden gerollert, geschoben, gezogen, bugsiert, sie sind spitz, kantig, klobig, ragen auf oder sind da wie ein Klotz: 20 bis 245 Millionen Jahre alt. Sie tragen Namen wie Basaltbombe, Granatglimmerschiefer, Riffkalk, Pegmatit, Tuff, Granit, Marmor, Serpentinit, Rotkalk. Es sind große, schwere Geschöpfe, wuchtige Klumpen, bröcklige Haufen. Sie sind sandfarben, grau, rot, mit Muscheln besetzt, geheimnisvoll glänzend, gesprenkelt, von Schneckenabdrücken durchzogen oder einfach nur in ihrem Stein-Sein: fahlgrau. Sie sind sackschwer, kaum zu halten, nur mit Kraft zu tragen, – und so nackt wie die Körper, die sie bewegen. Der Auftritt der Steine lässt die Körper hinter sie zurücktreten, die Steine lösen das Zittern der Muskeln aus, die Körper scheinen es auf sie zurückzuwerfen. Der Raum klingt, als würde dieses Zittern, Grollen nicht mehr vom Himmel weichen. Steine: an Rücken angeschmiegt, als Gewichte auf den Körpern, als Gegenspieler zum Gleichgewicht, als Ruhepole, Gefährten, Brocken, Schwergewichte –. Mit der Gebrochenheit der Steine zeigen auch die Körper ihre Verletzungen, die Struktur der Knochen, die Oberfläche der Haut. Inmitten des Raumes hält Christa Zuna-Kratky einen 20.000 Jahre alten Mammutknochen im Arm, dreht sich langsam und zeigt an, dass hier Zeit anders funktioniert. Der Knochen wiederum blickt die Umherstehenden von seinen Bruchstellen her an, als offenbarte er seine Wunden. Mindestens zwei Prozesse überlagern sich in dieser Landschaft, prallen in einer Art Eruption aufeinander: Das Stein-Werden aller Wesen und die Arbeit am Stein. Im Zusammenstoß aller Kräfte zeigt sich deren Gewaltpotenzial: Extraktion, kollabierende Sterne, Steine, Lichtexplosionen, Kräche, ein Rausch der Materie, Sprache, ein Beben der Darstellung, das die Form in Unruhe versetzt, – bis Stille eintritt und Dunkelheit. In dieser Stille ist das Fallenlassen zweier mit Knochenresten gefüllter Plastiktüten markerschütternd. Im fahlen Schein der Stirnlampen machen sich sechs Archäologinnen vorsichtig ans Werk, die Knochen und Steine zu lesen, die Bruchkanten zu ertasten und sie auf eigenwillige Art anzuordnen, sich mit ihren Körpern ihnen verwandt zu machen. So entsteht ein sonderbares Gebilde, ein Gefüge, das sich zu nichts mehr fügt, – aber umso mehr die Bewegung der sechs Frauen informiert. Eine Choreografie – als Zeichnung im Raum –, die vom Wissen transkorporaler Anordnungen kündet.

 

zurückgeworfen – das (Nicht-)Abzuschüttelnde

So wie die sechs Performerinnen im Nebelbeginn die knöchernen Extensionen ihrer Körper abzuschütteln suchen, konfrontiert uns das letzte Bild der Choreografie mit dem, was uns Zuschauenden zu tun bleibt: die europäische Sicht auf die Welt und die Körper abzuschütteln. Zwei Dinge hängen am Ende über den Köpfen der Zuschauenden im Schnürboden, sind gewissermaßen jede*r auf ihre*seine Weise dort festgezurrt, ihren Zusammenhängen enthoben: Ein 20.000 Jahre alter Mammutknochen und der Körper einer Frau. Eindrucksvoll erklimmt Myrthe Bokelmann an einem Seil eine Plattform in luftiger Höhe, setzt sich selbst in die Szene eines liegenden weiblichen Akts, während der Oberschenkelknochen an Strippen in den Bühnenhimmel gezogen wird. Zum letzten Mal überlagern sich die Blickachsen: denn so wie der Frauenkörper war die Landschaft einmal ein Bild, für den distanzierten Betrachter zurechtgerückt; – verfügbar gemacht für kapitalistische und patriarchale Zugriffe. Klar sieht das hinreißend aus, atemberaubend schön; trotzdem bleibt nichts als diese Vor-stellung von Welt abzuschütteln. Der Abend lange noch: unverklungen.

 

[1] Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache, 25. Aufl., Berlin 2012. Weitere Kursivierungen verweisen auf Sedimentablagerungen aus Texten von Heiner Müller, Walter Benjamin, Werner Hamacher, Martin Heidegger – und auf das Programmheft zu BONES and STONES.

 

Fanti Baum ist Performancekünstlerin und Theoretikerin. Sie war Stipendiatin der Akademie Schloss Solitude, Artist in Residence beim Forschungskolleg „Imaginarien der Kraft“ und erhielt 2020 den Künstler*innenpreis  der Stadt Dortmund. 2018 und 2020 war sie zusammen mit Olivia Ebert künstlerische Leiterin des „Favoriten Festivals“. Sie lehrt Performance in Theorie und Praxis an unterschiedlichen Kunsthochschulen und Universitäten.
Im April 2023 erschien beim Alexander Verlag Berlin Kein Theater. Alles möglich. – ein Buch von und über Claudia Bosse, das Baum zusammen mit Kathrin Tiedemann herausgegeben hat.

 

 
Loading