TQW Magazin
Araba Evelyn Johnston-Arthur über Ich nehm dir alles weg. Ein Schlagerballet von Joana Tischkau

Unverschämte Schwarze Zeitreisen. Zur widerständigen Poesie des deutschen Schlager-Script-Flippens

 

Unverschämte Schwarze Zeitreisen. Zur widerständigen Poesie des deutschen Schlager-Script-Flippens

Merkwürdigerweise gerade weil dieses Stück und der Artist Talk mit Elisabeth Clarke, Joana Tischkau und Eike Wittrock mich so bewegt haben, dass selbst Wochen später alles noch immer nach- und weiterwirkt, war das Verfassen dieses Texts eine besonders schwierige und langwierige Geburt. Kennen Sie das, wenn Sie etwas so tief bewegt, dass es Ihnen dermaßen schwerfällt, Worte zu finden, dass Sie das Gefühl haben zu platzen? Dieser Wortfindungs- und Gedankensammlungsprozess war für mich kein Lercherl. Gleichzeitig möchte ich diesen tiefgreifenden Prozess aber auch nicht missen. Ich bedanke mich an dieser Stelle sehr herzlich bei Christina Gillinger für Geduld und Zuspruch, bei Mariama Diagne für die Ermutigung, mich drüberzutrauen und bei Elisabeth Clark für ihre beim Artist Talk gestellte, Texttitel inspirierende, brillante Frage: „Gibt es da so etwas wie ein Skript?“. Die folgenden Zitate von Nia Love, Ngũgĩ wa Thiong’o, May Ayim, etwas später Robin D. G. Kelley und zu guter Letzt Yelvilaa Bodomo aka YIELU haben meinen Gedankenentknotungsprozess unterstützt.

„I am interested in the ‚performativity‘ of memory. I am thinking about the quotidian of trauma alongside the restoration and Magic of water cycles, partnering with my meditation on healing, dance, and media as a physical tap into embodying memory.“[1]

„Creative imagination is one of the greatest of re-membering practices […].“[2]

„ich werde
noch einen schritt weitergehen und
noch einen schritt
weiter
und wiederkehren
wann
ich will
wenn
ich will
grenzenlos und unverschämt
bleiben“[3]

Als erinnende Zeitreisende, die sich nach über zehn Jahren in den USA nun auf dem Weg hin zu einem tieferen Verständnis österreichischer Gegenwarten bewegt, erlebte ich Joana Tischkaus Ich nehm dir alles weg. Ein Schlagerballett als unverschämt-poetische Erinnerungshorizonterweiterung. Inspiriert von May Ayims grenzenlos und unverschämt. ein gedicht gegen die deutsche schein-heit verstehe ich „unverschämt“ als unapologetisch. Und poetisch im Sinne von Audre Lordes und June Jordans Verständnis von Poesie. D. h. nicht als Luxus, sondern als die widerständige Notwendigkeit, unsere Vorstellungskräfte fortlaufend zu befreien. Eine weltgestaltend transformierende Poesie, die unwahrscheinliche Räume für Unbenennbares, Verdrängtes und Verunwichtigtes schafft. Um mit den Worten von Robin D. G. Kelley in zu denken:

„In the poetics of struggle and lived experience […] we discover the many different cognitive maps of the future, of the world not yet born.“[4]

Nichts weniger als diese vielschichtige, fließend zwischen den Zeiten remixende Poesie vergegenwärtigt sich für mich in Joana Tischkaus Schlagerballett. Das Ensemble bestehend aus Dayron Dominguez Piedra, Sidney Kwadjo, Moses Leo, Deborah Macauley, Carlos Daniel Valladares Carvajal und Sophie Yukiko performt nuancierte Gegengeschichten, die das heile Heimatskript der Schlagerwelt vielfältig flippen. Tischkau gelingt es hier, eine gegenwärtige, performative, status-quo-kritische Erinnerungsintervention auf die Bühne zu bringen. Dabei setzt sie sich mit den unsichtbar gemachten Alltäglichkeiten der ver-positiv-ten Gewaltdimensionen rassistisch (hetero)sexistischer Zuschreibungen auseinander, angesichts derer sich Schwarze deutsche Schlagerstars (auch) in der Machtlandschaft der Schlagerindustrie behaupten müssen. Der Rassismusamnesie Deutschlands[5] (auch für Österreich anwendbar) setzt sie einen subtil remixten Soundtrack Schwarzer deutscher Schlagerstars wie etwa Marie Nejar, Roberto Blanco und Ramona und ein damit verwobenes Repertoire von Selbstbehauptungsverkörperungen entgegen. Welche verunwichtigten Geschichten wohnen in den deutschen und österreichischen Archiven für Schwarze Unterhaltung und Black Music[6]? Gibt es so etwas wie eine Selbstbehauptungstradition Schwarzer deutscher Schlagerstars, die auch Raum für Untröstlichkeiten zulässt? Wie verkörpern sich diese Gegengeschichten und ihre Untröstlichkeiten? Wie wirken sich die extrem sichtbar machenden weißen, deutschen (österreichischen) Bildtraditionen aus? Was macht die mehrheitsgesellschaftlich organisierte Einforderung, diese exotisierenden Bildtraditionen fortlaufend auf den Bühnen des Alltags und des Schlagers „authentisch“ zu verkörpern, mit Schwarzen Menschen? Wie flippen die jenigen, von denen verlangt wird, das Skript dieser rassistisch (hetero) sexistischer Bildtraditionen „authentisch“ zu verkörpern, ebendieses Skript?

Tischkaus Ich nehm dir alles weg hat meinen Imaginationshorizont in May Ayims Sinn un-verschämt bewegt … Es hat die Art und Weise verändert, wie ich etwa das von Marie Nejar gesungene Lied Mach nicht so traurige Augen und den von den Geschwistern Judi und Nicola Hauenstein als Kinder unter dem Bandnamen Cracy Coconuts gesungenen Rubberdab Dance jetzt sehen, hören und fühlen kann, welche zukünftigen Erinnerungswege mich diese Schlager und Hits heute gehen lassen…

„Mirror mirror me a little too used to being invisible or hyper-visible yet rarely ever seen […] To be seen is to be loved. We’re in the past, present, future in the ground and in the skies worldwide baby haven’t you heard? we up in space holding space in the complexity.“ [7]

 

[1] Nia Love, g1(host):UNDERcurrents, nia-love.com/g1-host-undercurrents (Zugriff: 04.03.2025).
[2] Ngũgĩ wa Thiong’o, Something Torn and New: An African Renaissance, New York 2009, S. 39.
[3] May Ayim, grenzenlos und unverschämt. ein gedicht gegen die deutsche sch-einheit, in: May Ayim, blues in schwarz weiss, Berlin 1996, S. 61.
[4] Robin D. G. Kelley, Freedom Dreams: The Black Radical Imagination, Boston 2002, S. 10.
[5] Fatima El-Tayeb, Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft, Bielefeld 2016.
[6] Joana Tischkau ist eine der Mitinitator*innen des Österreichischen Museums für Schwarze Unterhaltung und Black Music.
[7] Yelvilaa Bodomo aka YIELU, To See Is An Act of Love, verfasst und performt 2024, Audio, 3:06 Min. Das vollständige Gedicht war Teil der Ausstellung Amoako Boafo. Proper Love im Unteren Belvedere, Wien, 25. Oktober 2024 – 12. Januar 2025. Es wurde von Amoako Boafos Ölgemälde Why do you only black people inspiriert und bezieht sich auf den Austellungstitel Proper Love.

 

Araba Evelyn Johnston-Arthur ist transdisziplinäre künstlerische Kultur- und Erinnerungsarbeiterin, Zeitreisende, Wissenschaflerin, Kuratorin, Lehrende, (Ver-)Lernende und Rechercheurin. Sie war Mitbegründerin und Aktivistin von PAMOJA. Bewegung der jungen afrikanischen Diaspora in Österreich, des Network of African Communities (gegen institutionellen Rassismus) und der Recherchegruppe zu Schwarzer österreichischer Geschichte. Sie hat an der historisch Schwarzen Howard University in Washington D.C. gelehrt, Schwarze Politik und Geschichte der afrikanischen Diaspora studiert und ihre Doktorarbeit zur panafrikanischen, non-aligned Rassismuskritik von Unokanma Okonjo und der Pan-African Students Union of Austria im post-nazistischen Österreich der frühen 60er-Jahre verfasst. Gemeinsam mit Jelena Micić ist sie derzeit künstlerische Co-Leiterin der WIENWOCHE 2025, Festival für Kunst und Aktivismus und Teil des Direktor*innenkollektivs MUSMIG (museum für migration), eines Museums, das es noch zu erkämpfen gilt, während es gleichzeitig jetzt schon auch die grundlegende Gewalt thematisiert, die Museen in Europa meist zugrunde liegt.

 
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