Versprechen von Freiheit
Historische Figuren in einem archäologischen Fiebertraum in Bewegung zu setzen, hat schon immer gutes Ballett gemacht.
Die westliche Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts birgt zwei Freiheitsversprechen. Der moderne Tanz, auch freier Tanz oder Ausdruckstanz genannt, wollte den Körper von zahlreichen Zwängen befreien und zu einem organischen, natürlichen, erdverhafteten Organismus trainieren. Am Versprechen des modernen Tanzes sind Zweifel anzubringen – nicht nur weil sich diese Technik offenbar besonders gut geeignet hat, bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele 1936 in Nazideutschland eingesetzt zu werden
Das andere Freiheitsversprechen war jenes, das mit den Ballets Russes in Paris begann, in Choreografien von Vaslav Nijinsky und Bronislava Nijinska, Léonide Massine und George Balanchine zu finden ist und von ihnen in die USA exportiert wurde. Dieses Freiheitsversprechen ist Sport und Sex, schwule Matrosen und ein blauer Schimmer am (Theater-)Horizont (cue: Tschaikowski, Streicherserenade C-Dur, op. 48). An diesem Versprechen hakt Elizabeth Ward an: „a ‚rolling hitch‘ is a knot used in sailing to attach one line to another. This knot is both strong and easily undone.“[1]
L’Après-midi d’un faune, uraufgeführt 1912 in Paris, war eines der Skandalstücke der Ballets Russes. Nicht nur wegen seiner sexuellen Explizitheit – auf dem buchstäblichen Höhepunkt masturbiert der Faun auf dem geklauten Schal einer Nymphe. Sondern auch aufgrund seiner Bewegungssprache, in der Nijinsky versuchte, die Zweidimensionalität antiker Vasenmalereien in einen Bewegungsfluss zu übertragen. Wobei es eigentlich kein Fluss ist, sondern eher Übergänge zwischen Posen – was wiederum auch nur eine spekulative Rekonstruktion auf Basis von Fotografien ist. Im Programmheft zur Pariser Premiere von L’après-midi d’un faune sehen die Nymphen nicht aus wie auf einer Vase, sondern wie auf einem (angehaltenen) Filmstreifen. Bronislava Nijinska assistierte ihrem Bruder Vaslav bei der Erarbeitung der Choreografie und tanzte später auch selbst die Titelrolle. 1939 zog sie nach Los Angeles, wo sie weiter unterrichtete und choreografierte. Eine ihrer Schüler*innen wird in den 1980er-Jahren in Atlanta die Lehrerin von Elizabeth Ward.
In einer seltenen Allianz von schwulem und heterosexuellem Machismo legten Lincoln Kirstein und George Balanchine in den späten 1940er-Jahren in New York den Grundstein für eine amerikanische Ballettästhetik. Sportliche, große Tänzerinnen und schwule Männerromantik. Fitness- und Freizeitkultur ersetzten die romantische Idee von Schwerelosigkeit im Ballett – das Thema „Arbeit“ blieb weiterhin ausgespart. Und um Raum für diese Ästhetik zu schaffen, wurde die Schwarze Boheme aus der Upper West Side abgesiedelt. Das Lincoln Center war ein Gentrifizierungsprogramm. Die Bauarbeiten pausierten nur vorübergehend, um im bereits geräumten Viertel West Side Story zu drehen – romantisierte Gangfights für Hollywood. Auch diese Freiheit bleibt (für die meisten) ein leeres Versprechen. Hold my hand and I’ll take you there, somehow, someday, somewhere.
Konzentrieren wir uns auf die Nymphen und lassen den Faun weg. Nijinska statt Nijinsky, Les noces statt Le sacre du printemps. Cut the drama. Lose verkettete Figuren, aufgefächerte Posen, Bildsprünge, spielerische Verknüpfungen. Ist es möglich, sich an solche (tanzhistorischen) Freiheitsversprechen anzuhängen, ohne die Verwerfungen und die Gewalt mitaufzurufen, die an diese geknüpft sind? Mehr als an Freiheit glaube ich an Versprechen – an den Schimmer von Hoffnung, der sich darin spiegelt. Wieder etwas von vorne beginnen, we begin again. Mit dieser Leichtigkeit der freien Wiederholung kann ich etwas anfangen.
Ich hatte folgenden Traum: Ich befinde mich in einem Theater und warte auf den Beginn der Vorstellung. Ein bereits verstorbener berühmter deutscher Medienwissenschaftler ist ebenfalls im Zuschauerraum. Er war bekannt für seine Vorliebe für Heavy-Metal-Musik und die Rauchpausen während seiner Seminare. Als das Stück anfängt, schnippst er eine brennende Zigarette in das (offene) Bühnenbild, das sofort zu brennen beginnt. Wir rennen panisch aus dem Theater. Auf dem Weg nach draußen kommen uns die Nymphen aus „L’après-midi d’un faune“ entgegen, die – obwohl das Theater brennt – ganz ruhig und gelassen zu ihrem Auftritt gehen.
Ich wache auf und mache Buttermilk-Pancakes nach dem Rezept, das ich von meinem guten Freund Przemek gelernt habe. Przemek ist in Polen geboren und in Nordamerika aufgewachsen. Sein Vater hatte sich für die Teilnahme an den Olympischen Sommerspielen 1984 in Los Angeles im Radsport qualifiziert, konnte aber aufgrund des Boykotts der Ostblockstaaten nicht antreten. Die Familie reiste in der Folge aus und ließ sich in Kanada nieder, wo der Vater als Schlosser arbeitete. Ein Versprechen von Freiheit.
Eike Wittrock ist Professor für Tanzwissenschaft an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien. Seine Forschungen zur Historiografie des europäischen Bühnentanzes und queerer Performancegeschichte präsentiert er sowohl in wissenschaftlichen wie auch in künstlerischen Zusammenhängen. Derzeit arbeitet er an einer queeren Tanz- und Performancegeschichte des deutschsprachigen Raums.
[1] Elizabeth Ward im Interview im Abendprogramm zur Uraufführung.