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Reality Check mit Thomas Edlinger

Virus ohne Außen

Thomas Edlinger

Virus ohne Außen

Reality Check ist eine vom Theorie-Kuratorium des Tanzquartier Wien ins Leben gerufene Essayreihe und beschäftigt sich aktuell mit den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie.

Ich sehe aus dem Fenster auf eine langsam erblühende Landschaft im Frühling. Vor mir steht ein Nussbaum. Er lebt, trägt aber noch keine Blätter. Er will und wird wachsen, wie letztes Jahr auch. Hinter dem Nussbaum ducken sich Häuser in die Talsenke. Auf den Straßen fahren keine Autos, gehen keine Menschen. Der Virus ist da, auch wenn man seinen Wirt nicht kennt und nicht sieht. Ein Windhauch trägt die Luft über den Hügel an einen Ort, zu dem das Virus schon vorausgeeilt ist.

Es scheint, als ob das Virus das Zeug dazu hätte, sich in ein Hyperobjekt im Sinne Timothy Mortons zu verwandeln: ein Objekt, das uns alle tangiert und doch nicht vollständig zu greifen ist. Ein Objekt, das sich auch als Diskurs in den Köpfen eingenistet hat. So wie der Klimawandel kennt die Pandemie keine räumlichen Grenzen, stiftet jede Menge Verwerfungen auf dem Planeten und testet die biopolitische Verfasstheit ganzer Staaten und Gesellschaften ab. Sie erscheint als ständig in unsere sozialen Verhältnisse und unser Weltverständnis intervenierende fatale Dynamik, der man nicht gegenübertreten kann und von der man nicht nicht beeinflusst sein kann. So wie Klimawandelleugner*innen nicht von der negativen Fixierung auf ihren Gegenstand loskommen, können Corona-Verharmloser*innen nur mit sorgsam ins Bild gerückter steifer Oberlippe oder demonstrativ guter Laune auf „Panikmache“ oder die Bedürfnisse der dahinsiechenden Patientin namens Weltwirtschaft hinweisen. Und so wie die Klimakrise nicht als Rache der Natur auf frühere Verfehlungen von außen auf uns einstürzt, sondern in ihrer das menschliche Maß übersteigenden Dimension weiterhin von den menschlichen und maschinellen Aktivitäten im fortgeschrittenen Anthropozän verschärft wird, so ist Corona ohne globalisierte Verkehrs- und Datenströme, deren sozioökonomische Streuwirkungen und deren vielfältige Medienechos und Diskurseffekte nicht verstehbar.

Die Rache des Schuppentiers, das Monster aus dem Biolabor, der Frevel an der Natur oder gar die Strafe eines zornigen Gottes: Solche Deutungsmuster kursieren für den lange Zeit verdrängten Skandal des durch intensivmedizinische Betreuung vielleicht verhinderbaren Todes, der nun als Pandemie auch die westliche Welt erfasst hat. Der Bedrohung wird wie im nationalstaatlichen Krieg gegen den jenseits einer Front im Verborgenen agierenden terroristischen Feind mit einer Mischung aus militärischen Methoden wie der Triage oder Ausgangssperren und mehr oder weniger plausiblen bis repressiven Einschwörungen auf die Volksgesundheit begegnet. Corona zwingt zur neuen Ausbalancierung von Freiheits- und Sicherheitsbedürfnissen. Die Krankheit stellt zudem Fragen an die moralische und die politische Legitimität von sozialkybernetischen und polizeistaatlichen Steuerungsmaßnahmen sowie an die Verteilungsgerechtigkeit in Bezug auf die Handhabung von Gesundheits-, Sozial- und ökonomischen Krisen. Kurz: Sie fragt nach etwas, von dem bis vor Kurzem gesagt wurde, dass es gar nicht mehr existiert. Sie fragt nach der Verfasstheit des großen Ganzen namens Gesellschaft. Was hält wen wie zusammen, wie krank ist die Gesellschaft, und wie krank macht sie mich?

Fest steht, dass das Nudging, die liberale Version der Lenkung des Verhaltens jenseits von Verboten und Geboten, wieder zugunsten von Notstandsgesetzen und Ausnahmeregelungen zurückgeschraubt wurde. Spazierengehende Flaneur*innen werden nicht mit reizvollen Alternativangeboten aus den Parks geholt, sondern mit Strafmandaten. Zudem verkompliziert das Virus den Gegensatz von Fremdem und Eigenem in einer zwangskosmopolitischen Welt. Die Pandemie ist das unheimliche Fremde, das uns zu Leibe rückt und das eigene Problem zwangsläufig zum Problem für andere macht. So untergräbt das Virus in doppelter Hinsicht auch unsere – angesichts einer verdateten Netzwerkgesellschaft ohnehin schon schwer angegriffenen  Restvorstellungen von einer schützenswerten Intimität. Erstens erzwingt der Staat im Modus des Ausnahmezustands von seinen Bürger*innen die Aufgabe privater Freiheiten und die Vermeidung intimer Kontakte und fordert die Echtzeitverknüpfung von Daten, die hinter unseren Rücken immer auch zu unbekannten Verknüpfungen und Mustererkennungen dienen können, zur Epidemiebekämpfung. Zweitens erscheint ganz materiell die (Schleim-)Haut nicht mehr als Schutzschicht zwischen Körper und Umgebung, sondern als ein Medium für etwas, das als Anhäufung lebloser Biopartikel gilt. Denn das Virus existiert an der Schnittstelle zum Leben, aber es selbst lebt im strengen Sinn nicht, da es nicht mit einem eigenen Stoffwechsel ausgestattet ist und sich nicht selbst vermehren kann (wohl aber mutieren). Als gebündelte Information schmuggelt es den eigenen Bauplan in das Erbgut von Wirtszellen.

Der Aspekt der Kaperung macht das Virus nicht nur so gefährlich, sondern auch so attraktiv schillernd als Metapher einer gegenkulturell aufgeladenen Vorstellung von Subversion, die, wie die Einstürzenden Neubauten einmal formulierten, „keine Schönheit ohne Gefahr“ kennen will. V-Effekte von Kunst und Theorie, basierend auf einer Sprache in verrätselten Zungen, die nach William S. Burroughs und Laurie Anderson einem „virus from outer space“ gleichkommt, verändern das kulturelle Erbgut, schärfen den Sinn für erhellende ästhetische Deformationen und fördern die Einsicht in die Kontingenz des Bestehenden. Kein Wunder, dass das Virus ein in der an Dissidenz interessierten Philosophie von Derrida bis Baudrillard beliebtes Bild für die Praxis einer Dekonstruktion abgibt, die weder einen Anfang noch ein Ende kennen will, sondern um ständige Verschiebung bemüht ist.

Überhaupt nährt sich das spekulative Denken über das Virus aus Paradoxien: Die genetische Information kommt aus dieser Welt und erscheint zugleich nicht von dieser Welt. Das Virus ist ein Eindringling aus dem assoziierten Dunkel der Fledermaushöhlen, ein unbeherrschbarer Code „from outer space“ (mit dem nicht nur das Dunkel der Fledermaushöhlen, sondern auch die rassistisch aufgeladene Vorstellung von archaisch-vorhygienischen Tiermärkten in Asien gemeint sein kann). Die Natur ist nicht einfach Natur, sondern ein biotechnischer Bauplan in progress, mit dem man, so will es die Frankenstein-Fantasie, in Biolaboren weiter experimentieren kann – mit möglicherweise unabsehbaren Folgen.

Der Weltinnenraum im Zeichen von Corona erscheint daher reduziert und ausgedehnt zugleich. Er dehnt sich auf alles Menschliche aus, das der potenziellen Ansteckung unterliegt, unterbrochen nur von künstlich aufgeschütteten Quarantäneinseln. Doch zugleich reduziert er sich mit dem Fokus auf das Virus auf eine rein menschliche Perspektive, die ein ansonsten mehr und mehr eingefordertes umfassendes ökologisches Handeln, ein In-der-Welt-Sein mit anderen Netzwerkakteur*innen wie Nussbäumen, unglücklichen Hühnern, glücklichen Erdbeeren, dummen Algorithmen oder intelligenten Maschinen wieder zurücknimmt. Die Grenzen einer von Infektionsangst bestimmten Welt sind die Grenzen einer menschlich bestimmten Welt, die den Nussbaum vor meinem Fenster nicht kümmert.

Diese menschliche Corona-Welt ist nicht homogen, sondern produziert und reproduziert ihre Spaltungen und Widersprüche. Wir sind nur oberflächlich gleich vor dem Virus. In Wirklichkeit ist jeder Fall anders. Nicht nur Alter, Vorerkrankungen, die Besonderheit der individuellen Konstellation und die Art des Kontakts differenzieren das Krankheitsbild; das Virus schafft auch Opfer, die gar nicht krank werden müssen, um von den sozialen Folgen der Pandemiebekämpfung getroffen zu werden.

Abhängigkeit, Schwäche und Vulnerabilität erscheinen heute besser als der Fetisch der individuellen Autonomie geeignet, um Grundbedingungen des menschlichen Lebens zu benennen. Judith Butler hat die Verletzlichkeit sogar zum ideellen Kern ihrer Ethik erhoben. Vulnerabilität sei jene Empfindung, die wir im Anderen voraussetzen müssen. Zwar mag man Verletzlichkeit nicht im gleichen Sinn anstreben können wie ethische Normen wie Gerechtigkeit oder Gleichheit. Dennoch soll sie uns darauf verpflichten, auch die Verletzlichkeit des Anderen zu achten und dessen Unversehrtheit so anzustreben wie die eigene.

Instabilität und Vulnerabilität kennzeichnen nicht nur Körper und Psychen, sondern auch das Betriebssystem einer Weltrisikogesellschaft: Kurven zittern, Prognosen schwanken, Börsen beben. Die Ähnlichkeit der biopolitischen Maßnahmen vom Social Distancing bis zu Ausgangssperren verweist auf die Synchronisierung der Weltlage vor dem Virus und die wechselseitige Abhängigkeit aller Akteur*innen, deren herbeigezwungene Hyperkonnektivität sich nun als heimtückisch erweist. Netzwerke verkoppeln Elemente und schwächen die Grenzziehung zwischen innen und außen. Je stärker das Netzwerk, desto problematischer erscheint die Position des Außen. Selbst wer sich sozialen Medien verweigert, kann dort trotzdem verhandelt werden, nur mit dem Unterschied, seine Präsenz nicht mitsteuern zu können. Analog gilt: Selbst wer nicht Corona-infiziert ist, muss sich zu Corona-Infizierten verhalten.

„Welt ohne Außen“ hieß eine Ausstellung im Gropius-Bau in Berlin, die im Sommer 2018 zu sehen war. Sie widmete sich dem Modebegriff der Immersion. Immersive Szenarien setzen auf Stimmungen und Atmosphären, sie suchen die Aufhebung der Distanz zwischen Betrachter*in und betrachtetem Gegenstand. Immersion geht einen Schritt weiter als die Vorstellung von der Partizipation, die per Definition Beteiligung an etwas herstellen will und deshalb Beteiligung und das, woran man sich beteiligten könnte, voneinander geschieden denkt. Immersion verlangt Unterwerfung, Auslieferung, die im Entertainment- und Kunstbereich mit dem Genießen lockt. Besser mittendrin als nur dabei, wirbt ein Privat-TV-Sender. 

Der Happening-Vordenker Allan Kaprow lieferte dazu das weltumarmende Motto: Go in instead of look at. Ihm ging es darum, Realitäten der Kunst als andere Realitäten erfahrbar zu machen. Innovative Performancekunst basiert in diesem Verständnis, ähnlich wie romantische Liebe, auf Hingabe und Selbstaufgabe zugunsten einer ergebnisoffenen Situation, die man nicht kontrollieren kann und will. Ja mehr noch: Man stellt selbst jene Situation her, in der man versinkt. 

Kein Stau ohne die Autofahrerin, die den Stau erst erzeugt, in dem sie steckt. Und kein Shutdown ohne uns, die eine Welt ohne Außen bauen.

 

Thomas Edlinger, geboren 1967 in Wien, ist Radiomacher, freier Kulturjournalist, Kurator und Buchautor. Seit 1995 ist Edlinger gemeinsam mit Fritz Ostermayer Gestalter und Moderator der FM4-Sendung Im Sumpf. Von 2002 bis 2004 war er Kurator im O.K. Centrum für Gegenwartskunst in Linz, von 2004 bis 2006 Kurator im LENTOS Kunstmuseum Linz. 2015 veröffentlichte er den Essay „Der wunde Punkt. Vom Unbehagen an der Kritik“. Seit 2017 ist er Künstlerischer Leiter des donaufestival in Krems. Edlinger lehrt im Fachbereich Kunst- und Wissenstransfer an der Universität für angewandte Kunst Wien. Er ist einer von drei Theoriekurator*innen am Tanzquartier Wien.

 
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