TQW Magazin
Isabelle Edi und Tubi Malcharzik über Rakete Part 1: Luca Bonamore und Shade Théret / Magdalena Mitterhofer

Vom Pudern und Fisten

 

Vom Pudern und Fisten

Sechs weiße Kloschüsseln auf verfliesten Sockeln. Im Hintergrund läuft ein Video, das uns von der Ringstraße, auf der alljährlich die Regenbogenparade stattfindet, in den Untergrund zu den Toiletten der U-Bahn-Passage „Opernring“ zieht. In der Eröffnungsinszenierung des Festivals Rakete spült uns Luca Bonamore aus den TQW Studios an einen Ort, an dem Latexhandschuhe auf Pferdehufe, Cruising auf Paartanz, queere Clubkultur auf Barock trifft. Mit langer dunkelbrauner Mähne und Lackstiefeln, die in Pferdefüßen münden, zieht sich Bonamore über den Boden, vorbei an den bauchigen Keramikobjekten in die Mitte der Bühne. Das Licht ist schummrig. Nebel verteilt sich im Raum. Die Performance Lamentations dreht die Parole „Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen!“ aus dem Kultfilm Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt von Rosa von Praunheim um und sucht danach, was auf dem stillen Örtchen heute noch an emanzipatorischem Potenzial übrig ist. Zunächst scheint da nicht viel zu sein: Bonamore besteigt das Podest der Einsamkeit und besingt einen abwesenden „Raver Boy“. Er sehnt sich nach gemeinsamem Tanzen, Fliegen und Reiten in den Sonnenaufgang. Es ist eine Einladung, ein unerfülltes Begehren, sich zusammen durch Intimität von Scham und gesellschaftlichen Konventionen zu lösen. Die Vereinzelung zu überwinden. Das Klagelied wird durch Strobos und Clubmusik aufgebrochen. Bonamore springt im Spagat vom Podest und drückt seinen Körper in endlosen Wellen auf den Boden. Er tanzt, als wäre er auf einer gefüllten Tanzfläche, aber er bleibt allein und dreht sich um sich selbst. Queerness erscheint hier als etwas Unerfülltes. Als etwas, das im Sinne von José Esteban Muñoz noch nicht ist, sondern sich in der Zukunft manifestiert.[1]

Aber dann, als der Beat erloschen, das Licht verstummt ist und Bonamore über der Kloschüssel hängt, tritt ein zweiter Performer auf. Die beiden umarmen sich, beginnen zu verzerrten Strauss-Klängen zu tanzen. Sie heben ihre Arme über den Kopf, wie in der fünften Position des Port de Bras im klassischen Ballett. Bewegen sich aufeinander zu und wieder voneinander weg. Fast wie bei einem Ball, nur in Jockstraps. Bevor sich der Eindruck aufdrängt, dass die Performance in den romantischen Kitsch eines homonormativen Paartanzes kippt, stülpt sich Bonamore einen schwarzen Handschuh über und führt seine Faust in den Anus des anderen Performers ein. Nicht in einem spektakulären Sinne, sondern als selbstverständliche Weiterführung des Zweiertanzes, als choreografischer Akt des Sichnäherkommens. Für die Dauer einer Szene berühren sich Wiener Ballkultur und Cruising auf eine ambivalente Weise. Ob es darum geht, die vermeintliche Romantik eines Balls in seinem heteronormativen Kleid lächerlich zu machen oder Fisting eine andere Tiefe zu verleihen, wird offen gelassen. Was bleibt, ist das Begehren und das Versprechen, sich für einen Moment näherzukommen. Nicht in der Abgeschiedenheit einer öffentlichen Toilette, sondern vor den Augen des Publikums.

Auch in der zweiten Performance des Eröffnungsabends treffen zwei Personen aufeinander: Zwischen einem abstrakten Haus mit Tür, Fenster und schummriger Laterne und einer kleinen Erhöhung schnurrt ein Roboter-Kätzchen. Shade Théret und Magdalena Mitterhofer trennt eine kühle Distanz. Das Haus und das Podest. Zwei Orte, zwei Sphären – unsichtbare „Care-Arbeit“ und ausgestellte Körperlichkeit sowie Unterhaltung: Zuschreibungen, die historisch mit weiblich gelesenen Menschen verbunden sind. In den Dialogen der Performerinnen geht es um Wut, „desire“, „hellcat“ – das eigenwillige, miauend-schreiende Konstrukt von Weiblichkeit. Sonst so fremdbestimmt, erkundet die Performance, wie stereotypisierte Weiblichkeitsdarstellungen widerständig angeeignet werden können. Théret, die gleichzeitig Choreografin und eine der Performerinnen des Stücks ist, tritt in einem roten trikotartigen Samtkleid mit glitzernden Sternapplikationen und hellblauer Feinstrumpfhose in einen Lichtkegel auf dem Podest – eine Bühne auf der Bühne. Die kleine Erhöhung verwandelt sich in einen Ort irgendwo zwischen Zirkusmanege, Kunstturnen und Turniertanz. Théret atmet tief und schwer, bewegt sich wirbelnd und flink auf und neben dem Podest. Zu den Bewegungen spricht sie Texte wie am laufenden Band, ohne Anzeichen von Erschöpfung. Ihr schwerer Atem gibt hierbei den Takt an – wird zur Melodie. Sie krümmt und verbiegt sich in alle möglichen Richtungen. Es hat etwas von einem Drahtseilakt. Die Virtuosität der Performerin zeigt, welche Belastung für weiblich gelesene Personen und Körper zwischen dem Selbst und dem ständigen beobachtenden Außen Normalität ist.

Mitterhofer tritt in graubrauner Hose und Hemd auf. Sie verwandelt das monologartige Solo von Théret in einen gelösten Dialog, bei dem sich die beiden kaum anschauen. Sie tanzen Walzer, nehmen die ganze Bühne ein, schreien und pudern sich. In Hellcat wird das Pudern zum Glätten des Erscheinungsbilds des Gesichts; vom leichten Tupfen zum ungehemmten Spiel, bei dem das weiße Pulver in die Luft fliegt und sich fleckig im Gesicht und auf der Kleidung verteilt. Die Performerinnen verstärken diese kleine Bewegung der Hand, bis der ganze Körper zu beben beginnt. In der Überzeichnung finden sie eine Kraft, die feministische Emanzipation im besten Sinne bedeutet. Sie tragen – durch aufgeregte Emotionen, fast hastig aneinandergereiht – Textfragmente vor, die mit Auszügen aus Werken zweier Dichter*innen gespickt sind: zum einen Anne Sextons Gedichte aus Live or Die – in denen mentale Gesundheit und komplizierte Mutter-Tochter-Beziehungen verhandelt werden. Zum anderen Pasolinis Comizi d’amore, zu Deutsch: Gastmahl der Liebe – ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 1964, in dem der schwule Regisseur durch Italien reist, um Menschen zu Liebe und Sexualität zu befragen, und seine Interviewpartner*innen mit Fragen zu Queerness konfrontiert. Im Rezitieren und Sichbewegen schaukeln sich die Performerinnen immer weiter hoch, bis irgendwann ein kreischendes Duett entsteht – ein fragiler und empowernder Moment, der dem Publikum Fragen zuwirft: „Wie ernst wird ‚hellcat‘ genommen, wer hört unseren Schrei, und wieso müssen wir überhaupt so schreien?“ Nachdem der Schrei sich legt, performt Magdalena Mitterhofer einen berührenden Song mit den Zeilen: „Let’s make arrangements – beautiful arrangements.“ Geht es, dass wir uns trotz unerwiderter Liebe beide ein Zimmer teilen? „Du legst dich dahin, und ich leg mich einfach auf die andere Seite des Raums.“

Beide Performances setzen bei gesellschaftlich marginalisierten Phänomenen an: weiblicher Wut und schwulem Fisten. Sie nehmen diese körperlichen Praktiken auf, befragen sie und verschieben ihre Bedeutung. In Hellcat werden Darstellungen von Weiblichkeit komplex, ambivalent, teilweise unverständlich. Die Performerinnen zeigen Wut, die befreit, manchmal bedrohlich wirkt, aber geben auch Raum für Traurigkeit und Fragilität. Lamentations widmet sich Cruising, Fisten und queerem Begehren und entwickelt sein emanzipatorisches Potenzial in der Zartheit. Fisten als Choreografie der Berührung. Weniger als Penetration, mehr als Walzer.

 

[1] José Esteban Muñoz, Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity (Sexual Cultures), New York 2009.

 

Isabelle Edi (Sie/Ihr) 1996 geboren in Hamburg, ist Kostümbildnerin, Künstlerin und Kuratorin und beschäftigt sich mit Perspektiven für Schwarze Menschen in einer weiß dominierten Kulturlandschaft und der Rezeption Schwarzer Körper im bewegten Bild. Sie arbeitete unter anderem mit dem Schauspielhaus Hamburg, Thalia Theater, Kampnagel, BRUT Wien, David Uzochukwu und dem Filmkollektiv Jünglinge. 2017 gründete Sie mit Freund*innen das Kollektiv POSSY, welches sich für die Sichtbarkeit von FLINTA* Personen im Kulturbereich einsetzt. Momentan studiert Sie im Masterprogramm in Critical Studies an der Akademie der Bildenden Künste Wien.

Tubi Malcharzik (keine Pronomen, they/them) lebt und arbeitet als Performer*in, Dramaturg*in und DJ in Hannover und Wien. Ausgehend von autobiografischen Erfahrungen beschäftigt sich Tubi mit queerer Erinnerung, Abstract Drag, deutsch-polnischer Migrationsgeschichte und scheinbar unmöglichen Duetten – sowohl in Soloperformances (COMEBACK, PASKUDNIK) als auch in Form von kollektiven Arbeiten (Funken bis Uranus, Sprachnachrichten über Schlonsken). Die Arbeiten wurden unter anderem in der Schwankhalle (Bremen), im HAU Hebbel am Ufer (Berlin), im brut (Wien), PACT Zollverein (Essen), auf dem MULTITUDE Festival (Hannover) und am Körber Studio Junge Regie (Hamburg) gezeigt und eingeladen.

 

Die Texte zum Rakete-Festival 2023 wurden von Studierenden des MA Critical Studies in Kooperation mit der Akademie der Bildenden Künste Wien (Moira Hille) verfasst.

 

 
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