TQW Magazin
Dominika Glogowski über Sleeping Duty von Oleg Soulimenko

Von der Loslösung des Vertikalen und des Horizontalen

 

Von der Loslösung des Vertikalen und des Horizontalen

Ein kleines roboterartiges Objekt, das diese typischen mechanischen Fahrgeräusche von sich gibt, leitet Sleeping Duty ein: eine performative Narration von Oleg Soulimenko, die sich in einzelnen dichten, sensiblen und disruptiven Formationen von der Linearität befreit, vertikale und horizontale Ebenen voneinander trennt und doch zu einer Einheit findet. So wühlt Stefan Voglsingers Schlagzeugspiel auf, schwillt an und ab und lässt rhythmische Passagen wie eine körperliche Erlösung aus dem Chaos erscheinen. Da bricht plötzlich eine hitzige Debatte aus, ein Gemisch aus erdachten und existierenden Wörtern. Wie an einen Rettungsring klammere ich mich an mir bekannte Wortfetzen, um erfolglos eine sprachliche Struktur zu erbauen und der nicht humorlosen Entladung inhaltlich beizuwohnen. Körper wiederum erscheinen, um als Personen wahrgenommen zu werden und sich wieder zu Körpern zu verdinglichen, etwa in den ausdrucksvollen Rückenansichten der Performerinnen Daria und Katerina Nosik, die nebeneinander in ihrer Ähnlichkeit die Unterschiedlichkeiten erfassen. Die Muskulatur, welche die Anspannung trägt, erinnert an die zuvor verlorene und danach wieder eintretende Entspannung. Figuren verschwinden hinter Architekturen aus Textil, erwecken diese zum Leben und gleiten, holpern, schleichen über die Bühnenbildinseln von Alfredo Barsuglia. Sie formieren sich zweidimensional immer wieder neu und schaffen durch geometrische Farbflächen konstruktivistische Assoziationen. Ich denke an Malewitschs Suprematismus und seine Expansion der Malerei in die Architektur, das Spiel zwischen Zwei- und Dreidimensionalität und an die Bedeutung des Weltalls für den russischen Kosmismus und als Inspirationsquelle der russischen Avantgarde. So sah Nikolai Fjodorow im Kosmos die Urquelle des Wissens, das, durch Astronomie produziert, in der Architektur zur Anwendung gelang.[1] Tod, Wiederauferstehung und Unsterblichkeit fanden sich auf einer ambivalenten Zeit-Raum-Achse des technischen Fortschritts wieder, die nur durch die vierte Dimension Erlösung erfuhr.[2] Revolutionäre Neuanfänge durch techno-futuristische und biopolitische Utopien, in denen Geist und Spiritualität einen integrativen Bestandteil darstellten, bildeten die Grundlagen für sozio-technische Entdeckungen.[3] Sleeping Duty (in Anlehnung an Sleeping Beauty [4]) lässt mich aber auch etwas schaudernd an Lenins gläsernen Sarkophag von Konstantin Melnikow denken, wo Schlaf und Tod sich in einer ausgesetzten Zeitlichkeit vereinen[5] und die Grenzen der einbalsamierten Materialität des Körpers durch einen immerwährenden Kult des Geistes sprengen. Schlummert eine verkörperte Pflicht heute auch in einem Dazwischen? Welche Gestalt würde sie wohl in einer imaginierten Diagnostik von Wladimir Sorokin annehmen? Oleg Soulimenko lenkt in der Erbauung eines raumschiffartigen Utensils unsere Aufmerksamkeit auf die Einfachheit des kollektiven Handelns: Hände, die gemeinsam an Schrauben drehen, und Körper, die das Gerüst stabilisieren. Die Trennung von horizontal und vertikal, Leben und Tod, wie Fjodorow meinen würde, erfolgt durch das Aufsteigen des Konstrukts in das illusionierte Universum des Verlangens und lässt mich fragend zurück. Wo finden wir heutzutage unsere utopischen Reformationsträume, in Zeiten machtdürstender technologischer Exzesse, die das Verletzliche, Spontane, Nonkonformistische, Kreative, Rhythmische und Verbindende des Lebens in einer algorithmischen Buchhaltungslogik anzupassen, zu fragmentieren, zu optimieren oder gar gleich militärisch zu vernichten suchen? Vielleicht schlafen Utopie und Dystopie ja näher beieinander, als uns lieb ist.[6]

 

[1] Boris Groys (Hg.), Russian Cosmism, Cambridge, Mass. 2018, S. 55.
[2] Michael Chase, „Pavel Florensky on Space and Time“, in: Schole, 9/1, 2015, S. 105–118.
[3] Ellen Pearlman, „The Resurgence of Russian Cosmism“, in: PAJ: A Journal of Performance and Art, 41/2, 2019, S. 85–92; doi.org/10.1162/pajj_a_00475.
[4] Oleg Soulimenko im Gespräch mit der Autorin, Wien, 20.12.2022.
[5] Jonathan Brooks Platt, „Snow White and the Enchanted Palace: A Reading of Lenin’s Architectural Cult”, in: Representations, 129/1, 2015, S. 86–115; doi.org/10.1525/rep.2015.129.1.86.
[6] Christina Lodder, Maria Kokkori, Maria Mileeva (Hg.), Utopian Reality: Reconstructing Culture in Revolutionary Russia and Beyond, Leiden/Boston 2013.

 

 

Dominika Glogowski ist Kunstschaffende und Forscherin zu Themen wie Ressourcenabbau, Energiewende und (Bio-)Diversität. Sie konzipiert und leitet sektorenübergreifende Projekte zwischen Kunst, Wissenschaft und Industrie, die durch performative Erfahrungsmomente kritische Interaktionsräume schaffen. Dominika Glogowski ist Gründerin des Think-Tank artEC/Oindustry (artecoindustry.com) sowie Co-Founderin des Kunsthubs Deep Earth Synergies (deepearthsynergies.org) in UK/Großbritannien und des Wiener Vereins Flechtwerk (flechtwerk.or.at). Ihre Kooperationspartner*innen sind Forschungseinrichtungen (KLI for Evolution and Cognition Research Austria), die Bergbauindustrie (Cornish Lithium Ltd., UK) und Universitäten (Unicamp, USP São Paulo, Brasilien).

 

 
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