Während wir arbeiten…
Die Tänzer*innen haben die Fabrik verlassen (Encounters #1) und sind in die Büros des Tanzquartier Wien eingezogen. Zuvor hatten sie 2018/19 mit Negotiations bereits ein ganzes Jahr lang in einem Geschäftslokal zu Ladenöffnungszeiten ihre Arbeit verrichtet. Die künstlerische wie kulturpolitische Schaffen von Alexander Gottfarb stellt grundlegende Fragen danach, wie Arbeit in unserer Gesellschaft strukturiert ist und Tanz, wie auch Kunstschaffen an sich, als Arbeit anerkannt wird.
A strange biotope
Bereits auf dem Weg durch die Bibliothek zu den Büros werde ich akustisch in ein Biotop eingeführt: Eine Klangkulisse, die in ihrer ständigen Wiederholung einmal an Tierlaute erinnert, dann Stimmübungen gleicht oder sich in einen Chor aus Stöhngeräuschen wandelt, wird von einem kühlen Grundrauschen untermalt. „The secret joy of bureaucracy“[1] kommt mir in den Sinn, ein Ausschnitt aus einem Buchtitel des Soziologen David Graeber, der auch mit seinem Buch Bullshitjobs 2018 für Furore gesorgt hat.
Flüstern, einzelne Wörter, die sich in ihrer Repetition allmählich verändern und dadurch in ihrer Klanglichkeit und Materialität zum Vorschein kommen. Genotext. Hier wird produziert. In jeglicher Form.
„Choreography casts light on one of the ways we are organized, that we are organized by dancing.“[2]
My first encounter: Ein verlorener Blick von Charlotta R., die im Großraumbüro hinter einer großen Pflanze hervorkommt und beiläufig Beinübungen („Tendus“) am Schreibtisch vollführt, während sie klagende, ahnende A-Laute in unterschiedlichen Tonhöhen von sich gibt. Sie verschwindet wieder hinter der Pflanze, um den Ablauf mit kleiner Variation von Neuem zu beginnen. Der Treppe nach unten folgend treffe ich als Nächste Nanina K. und Raul M. in einem Aufenthaltsraum an. In einer sich ständig minimal variierenden Feedbackschleife von mechanischen Bewegungen wirken sie wie Androide und machen mich zugleich neugierig darauf, in welchem Setting Encounters #3 stattfinden wird.
Den Gang entlanggehend sehe ich, wie sich Alexander G. im Chefbüro an der Wand festhält und seinen Körper um die eigene Achse hin- und herwendet. In dieser Arbeitswelt ist es nicht mehr die Maschine, die den Takt angibt, sondern der Mensch selbst, der sich diese einverleibt hat. Ein Zuschauer hat sich getraut, die Türschwelle zu überschreiten, und es sich auf der Couch im Büro gemütlich gemacht.
Zur gleichen Zeit hantelt sich Katharina I. im Nebenbüro den Schreibtisch entlang und bewegt ihre Finger einzeln in der Luft. Im selben Raum fällt Anna N. wiederholt vom Sessel, um sich über Umwege wieder darauf einzufinden. Die Stimmbänder vibrieren, Laute werden verschluckt, unterdrückte Flüche und innere Spannungen machen sich Luft. Mit Richtmikrofonen und Lautsprechern sind die Räume akustisch miteinander verwoben. Der Musiker Stephan S. sitzt in einem Lagerraum (ausgestattet mit einer Uhr ohne Zeiger, welch schönes Detail) am Computer. Er bildet den Kontrapunkt zur Präsenz der Tänzer*innen und sitzt – wie man sich die Kinästhetik während des Tages vorstellen kann – oft minutenlang bewegungslos vor seinem Bildschirm, nicht darauf fokussiert, dass auch er selbst betrachtet wird.
Die Performance entwickelt einen meditativen Sog, dem man sich schwer zu entziehen vermag. Das abstrakte Biotop besteht aus Überlagerungen, die aufgrund ihrer Gleichzeitigkeit zusammenklingen. Durch den „unangemessenen Gebrauch“[3] wird der Arbeitsraum als Lebensraum sichtbar und die dort alltäglich stattfindende Performanz infrage gestellt.
Wie in eine Parallelwelt versetzt, erscheinen die tanzperformenden Körper nicht zuletzt aufgrund ihrer mal leeren, mal konkreten Blicke entpersonifiziert; als ständig ihre Form verändernde Platzhalter, die in einem ausgeglichenen Spannungsverhältnis (Flow) ihre Arbeit verrichten. Ihre Physikalität steht im Kontrast zur Künstlichkeit der geradlinigen, starren Architektur und Ausstattung.
Wie auch die anderen Besucher*innen wandere ich von Tür zu Tür, verweile meist in sicherer Distanz zu den Performenden und finde mich plötzlich selbst in einer Feedbackschleife wieder. Die streng sich wiederholenden Bewegungen machen mir meine eigene Bewegungsfreiheit bewusst, dennoch wage ich es nicht, aus meiner Rolle der rücksichtsvollen Zusehenden auszusteigen und die produktive Performancemaschine zu unterbrechen. Die Encounters (deutsch u. a. Begegnung, aber auch Zusammenstöße, Konflikte) bleiben nach postfordistischem Vorbild dem Individuum selbst überlassen.
„Choreography […] displays us, we human beings, as dancers; choreography shows us dancing; choreography exhibits the place dancing has, or can have, in our lives. Choreography puts the fact that we are organized by dancing on display.“[4]
Ein fragendes Kopfschütteln eine*r Tänzer*in in Wiederholung am Türrahmen eines der Büros lehnend mit Blick auf den*die ebenso aus dem Büro gestürzte*n Tänzer*in, der*die bei meiner letzten Tour zuvor noch „Pliés“ und Walzerschritte vollführt hat. Ein verschluckter Laut eine*r am Schreibtisch sitzenden Tänzer*in mit Blick auf das Regal, als würde er*sie Ärger hinunterschlucken. Immer und immer wieder.
Ein*e weitere Tänzer*in begegnet mir am Gang: Er*Sie hat nun Essenspause.
Nach ca. eineinhalb Stunden entscheide auch ich mich, eine Pause einzulegen, und setze mich in einen nur allzu wienerischen Arbeitsraum: ein Café, in dem ich trotz der späten Uhrzeit andere Arbeitende mit ihren Laptops antreffe. Ich stelle mir die Frage danach, wie Arbeit und Freizeit in unserer Gesellschaft gewichtet sind. Letztere wurde nicht zuletzt notwendig, um das Produzierte auch konsumieren zu können. So brachte die Reduzierung der Arbeitszeit die Entwicklung neuer Wirtschaftszweige wie Tourismus, Shopping und Wellness … Wohin bewegen wir uns heute?
Nach meinem letzten Schluck Rotwein bestelle ich einen Espresso, doch die Maschine hat für heute ihre Arbeit bereits eingestellt.
Zurück im TQW werde ich von den Mitarbeiter*innen freundlich begrüßt und wieder ins Biotop geführt. Auch sie sind für mich Teil der Performance, arbeiten und wiederholen ihre Tätigkeiten in fortwährender Variation. Ich traue mich nun, freier durch die Büros zu flanieren, mich an einen Schreibtisch zu setzen, Bücherregale zu studieren. Ein*e Tänzer*in kreist das Großraumbüro, in dessen Mitte ich mich gesetzt habe, in Kreuzschritten ein wie ein Raubtier seine Beute.
Um 23 Uhr werden die Tänzer*innen ihre Arbeit für diesen Tag beenden. Auch ich gehe, als wäre meine Schicht zu Ende, und verabschiede mich beim TQW Personal. Nicht jedoch bei den Tanzenden, die sind noch in ihre Arbeit vertieft und ich wage es nicht, ihren Fluss zu unterbrechen.
[1] David Graeber, The Utopia of Rules: On Technology, Stupidity, and the Secret Joy of Bureaucracy, Brooklyn 2015.
[2] Alva Noë, Strange Tools: The Art of Human Nature, New York 2015, S. 14.
[3] Vgl. Giorgio Agamben, Profanierungen, Frankfurt a. M. 2005.
[4] Noë 2015 (wie Anm. 2), S. 13.
Inge Gappmaier arbeitet als freie Choreographin, Tänzerin, Tanzpädagogin und Tanzwissenschafterin mit Basis in Wien. In ihrer eigenen Arbeit untersucht sie das zeitgenössische Selbstverständnis des menschlichen Körpers zwischen Poesie und gesellschaftspolitischer Strukturen. Ihre künstlerische Forschung artikuliert sich vorwiegend in den Bereichen Tanz, Performance und Installation. Sie hat Choreografie und Performance am Institut der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen, sowie Zeitgenössische Tanzpädagogik an der Konservatorium Wien Privatuniversität (heute: MUK) studiert. Ihre künstlerischen Arbeiten wurden bisher u.a. bei brut Wien, Kosmos Theater, TanzhafenFestival Linz, Festival Pelzverkehr Klagenfurt, Mousonturm Frankfurt und Novi Ganz in Zagreb gezeigt. ingegappmaier.at