TQW Magazin
Jenni Tischer über Lost at Sea with Puddles and Sunny von Jeremy Wade

WE TELL OURSELVES STORIES IN ORDER TO LIVE [1]

 
Jeremy Wade tanzt in weißem Paillettenkleid auf der Bühne, Rückenansicht

WE TELL OURSELVES STORIES IN ORDER TO LIVE [1]

Der Berliner Performer Jeremy Wade nimmt uns auf Ebene minus neun eines Kreuzfahrtschiffs mit auf eine queere Sci-Fi-Reise auf dem offenen Meer. Diese Reise führt zugleich durch die tragische Lebensgeschichte von Miss Puddles, der Pelikanin, die, von der Crew aus einem Ölteppich gerettet, seitdem als Kabarettsängerin jede Nacht aufs Neue die Bühne betritt, das Federkleid schüttelt, glättet, zupft und den ganzen Körper in Pose bringt. „We do this night after night – it’s the magic of continuity.“[2] Begleitet wird sie dabei von der Klaviermusik von Quentin Tolimieri, die uns, dramaturgisch anspruchsvoll, von einer fröhlichen Showbiz-Melodie bis hinab in dunkle, apokalyptische Tiefen von „Dead Flag Blues“ von Godspeed You! Black Emperor geleitet. Aber hey: „It’s time to put on a show!“ Der „little bird“ (wie Puddles von ihrer in der Ölkatastrophe verendeten Schwester liebevoll genannt wurde) streckt die Flügel in die Höhe, lässt das ölverschmierte Federkleid glitzern, streicht sich den Flaum aus dem Gesicht, zwinkert mit dem einen Auge und windet sich singend, krächzend, und tanzend mit Haut und Federn durch die wohl schwerste Geschichte: die eigene Biografie. Eine Werdensgeschichte, die vom Publikum und von der allgemein als sensationshungrig geltenden Gesellschaft skrupellos eingefordert wird. In dieser ganz speziellen Nacht jährt sich die Rettung des „little bird“ zum vierten Mal, und wir werden Zeug*innen des Überlebenskampfes und der Trauer, die sich in den Vogelkörper eingeschrieben hat. „We all have to come to terms with our bodies“, ermuntert uns die „fluffy lady“, die sich, einst ein glamouröser Vogel im strahlendsten Federkleid, mit den ihr zugefügten Wunden in neuer, alter, zeitloser, queerer, komplizierter, fremder, ganz eigener Weise bewegt, tanzt und singt. Gleichzeitig erinnert sie uns daran: „This horizon of possibilities is not an endless phallic version of the future, it is not infinite. This earth is our home, it is a dome, it is a site of trauma, it is our womb, it is a wound.“

Der emanzipierende Akt des Spekulierens stellt zugleich Gegenwart her und entwirft Zukunft. Puddles erinnert uns an die realen materiellen Grenzen, an die wir alle auf unterschiedliche Weise stoßen und die uns unsere gegenseitigen Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten und unsere Endlichkeit aufzeigen. „Where is we we weeee?“ Wie können wir uns gemeinsam in Anerkennung unserer Unterschiedlichkeit in einer dialogischen Zugewandtheit bewegen, welche nicht nach Einigkeit und Einheitlichkeit strebt, sondern Liebe als Einladung an das Fremde versteht?

Fremd waren der Pelikanin auch ihre Retterinnen und deren Sprache: „I awoke in the infirmary to the voices of witches who held their hands over me, nurses chanted things.“ Sie ermuntern den Vogel, sich aufzurappeln, sich dem Leben zu stellen und vor allem auf die Bühne zu gehen „You got shows to do, little bird!“ Und so stellt sich Puddles jeden Abend wieder ihrer Aufgabe, das Publikum – uns – zu unterhalten. Der Mikrofonständer, an dem sich der Vogel festkrallt, seinen müden Körper hinaufzieht, an den er sich lasziv schmiegt und den er wie eine Last hinter sich herschleift, changiert zwischen technischem Assistenten und Pole-Dance-Stange. Ganz im Zeichen des Posthumanismus hält Puddles uns damit neben der gegenseitigen Abhängigkeit menschlicher und nichtmenschlicher Akteur*innen auch unsere Einbettung in weit größere organisch-biologische und anorganisch-technische Gefüge vor Augen.

Ganz allmählich, je tiefer wir in die Geschichte des „little bird“ mit hineingewoben werden, wird uns klar, dass wir uns längst in der Ebene minus neun befinden. Tief unten im Bauch des Kreuzfahrtschiffs namens Kapitalismus mit stetem Kurs „into the great nothingness“.

Und wir können dankbar dafür sein, dass uns Puddles die Pelikanin das Lied ihrer Schwester singt: „It’s gonna be okay, little bird, even if it is not okay, little bird.“

 

[1] Joan Didion, The White Album, New York 1979.
[2] Alle Textzitate aus der Performance (Text: Allison Wiltshire und Jeremy Wade).

 

Jenni Tischer ist Künstlerin und unterrichtet an der Universität für angewandte Kunst Wien in der Abteilung für Kunst und Wissenstransfer. Tischers Arbeiten wurden zuletzt in Einzelausstellungen in der Galerie Krobath, Wien, im Kunstforum Baloise, Basel, im mumok, Wien, und im Bielefelder Kunstverein gezeigt sowie in Gruppenausstellungen im MAK Center, Los Angeles, bei after the butcher, Berlin, in der Kunsthalle Tübingen und in der Kunsthalle Wien. 2013 wurde sie auf der Art Basel mit dem 15. Baloise Kunst-Preis ausgezeichnet, im Rahmen der Einzelausstellung im mumok entstand der Katalog Jenni Tischer. PIN, erschienen bei Sternberg Press, Berlin. Jenni Tischer war Artist in Residence des MAK-Schindler-Stipendienprogramms in Los Angeles. jennitischer.com

 
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