TQW Magazin
Ruthia Jenrbekova über BRUNO von Alix Eynaudi

WER IST BRUNO?

WER IST BRUNO?

Wollt ihr mit mir ein Ratespiel spielen? Ich stelle eine Frage, und ihr versucht, sie zu beantworten.

Stellt euch einen dunklen Raum vor. Darin steht eine Art Konstruktion, eine außerirdische Leuchtenmaschine so groß wie ein Elefant. Noch lässt sich nichts erkennen, aber einen Namen hat es schon: Bruno. Oder vielleicht ist es ein Titel: BRUNO. Was ist damit gemeint? Könnte es eine Abkürzung sein? Wie Brennendes Röhrendes Unbekanntes Nacht-Objekt? Unwahrscheinlich. Es muss ein Name sein, zumindest klingt es wie ein europäischer männlicher Vorname. Vielleicht kennt ihr den Kerl sogar. Es könnte ein Verwandter von euch sein, ein Freund oder Bekannter, ein ehemaliger Klassenkamerad, es kann jemand sein, von dem ihr schon einmal gehört habt, oder jemand anderes – aber wer? Ein Flötenspieler, ein Zauberer, ein Kerzenanzünder, ein Top-Buchhalter? Bruno könnte auch ein Nachname sein, und dann habt ihr bestimmt eine Vermutung: Es muss sich bei ihm um diesen berühmten Mönch, Philosophen und Dichter handeln, der 1600 in Rom aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit der Heiligen Inquisition verbrannt wurde. Er glaubte daran, dass es im Universum unzählige Welten gibt, glaubte an andere Erden, die andere Sonnen umkreisen, die von anderen Lebensformen und wahrscheinlich anderen Menschen bewohnt sind. Aber Menschen sind immer andere Menschen, nicht wahr? Unter ihnen könnte es immer jemanden mit dem Namen Bruno geben. Also: Wer ist er?

Schwer zu sagen. Nicht genug Licht. Der Leuchtenelefant schlummert vor sich hin, seine Umrisse zeichnen sich in der Nacht nur schwach ab. Plötzlich entzündet jemand (Bruno?) die Sonne, die weiße außerirdische Sonne, die tief über dem Horizont hängt. Ihr helles Strahlen durchdringt den Raum und wirft scharfe, luftleere Schatten. Der außerirdische Tag hat begonnen und ihr seht, wie zwei menschenähnliche Wesen ihren Beschäftigungen nachgehen. Was machen sie? Sind sie auf der Suche nach Bruno?

Ihr meint, es liegen nicht genug Informationen vor, um auf eine Antwort schließen zu können, aber, naja, dagegen kann ich leider nichts tun. Unzählige Welten bergen unzählige Möglichkeiten, was bedeutet, dass nichts mit Sicherheit gesagt, aber alles vermutet werden kann. Hatten die beiden eine Affäre oder haben sie nur versucht, sich an die ungewohnten Bedingungen auf einem anderen Planeten anzupassen, der von einer anderen Sonne beschienen wird? Was hat sie dorthin geführt? Von wem stammen ihre ausgefallenen Kostüme?

In einer Situation der Ungewissheit Vermutungen anzustellen, ist ein Vergnügen der sonderbaren Art. Nicht für alle Rätsel gibt es notwendigerweise Lösungen, aber alle sind eine Frage der Interpretation. Susan Sontag hat uns in den 1960er-Jahren vor Interpretationen gewarnt, und wir können diese historische Tatsache so interpretieren, wie es uns gefällt. Letztlich geht es um eine Art von jouissance – aus so-gut-wie-nichts etwas Rätselhaftes zu machen. Warum hat das Wesen aufgehört, sich zu bewegen? Was ist das für ein Geräusch? Ist das ein Raumschiff? Vielleicht taucht eine mögliche Antwort plötzlich als leuchtendes Bild an der Höhlenwand auf: einige sakral anmutende Figuren bei einem rituellen Reigen. Götter? Tiere? Das Bild erscheint nur für einen kurzen Augenblick. War es ein Schlüssel zum Ganzen?

Vielleicht war es das, niemand kann sich mehr erinnern: Auf die Nacht folgt der nächste Tag, und zu den beiden anderen hat sich ein weiteres anthropomorphes Wesen gesellt. Es scheint, als ob die Gruppe sich an sinnlichen Experimenten versucht und die potenziellen Möglichkeiten ihrer Körper und der Umwelt auslotet. Sie sind neugierig. Sie probieren Verschiedenes aus, gehen dabei aber nie weit, hören immer kurz, nachdem sie begonnen haben, wieder auf – als ob sie Angst hätten, dass etwas schiefgehen könnte. Wie für Entdecker*innen üblich fangen sie an, den Boden aufzugraben und versuchen, unter die Oberfläche zu gelangen. Sie versuchen, sich zu verstecken und so zu tun, als hätte die Situation nichts mit ihnen zu tun. Als ob sie eigentlich jemand anderes wären. Aber wer?

Hat da gerade jemand „Bruno“ gesagt?

In diesem Augenblick wird es wieder Nacht und plötzlich wacht der leuchtende Elefant auf. Er zündet seine Augenscheinwerfer an und beginnt zu singen. Seine Rohre und Lampen hören sich wie ein hypnotisches Glühbirnenorchester an. Könnt ihr verstehen, was er posaunt? Ist er vielleicht derjenige welche? Bruno, meine ich.

Aber das interessiert euch anscheinend nicht mehr. Ihr seid nicht verwirrt, oder? Ihr scheint einem anderen Vergnügen zu frönen, nämlich die Ungewissheit ungewiss bleiben zu lassen. Aber mein Spiel ist noch nicht vorbei, und jetzt seid ihr an der Reihe nachzudenken und Vermutungen anzustellen: Wer ist Bruno?

Natürlich besteht der Hauch einer Wahrscheinlichkeit, dass ihr Bruno seid, und dann – bingo! – hättet ihr nicht einmal anfangen müssen zu lesen.

Aber falls ihr einen anderen Namen habt, was wäre das denn für einer? Hugo? Paul? Cécile? Mark? Alix?

Was auch immer, meint ihr? Tut nichts zur Sache, meint ihr? Falsche Richtung, meint ihr? Nomina sunt odiosa, meint ihr? Lass sie doch einfach so sein, wie sie sind, meint ihr?

Auf keinen Fall. Das ist schließlich mein Bruno, nicht der von jemand anderem, und früher oder später werde ich es herausfinden.

 

Ruthia Jenrbekova wurde in Almaty, Kasachstan geboren und hat ihr Studium der Ökologie an der Kasachischen Staatsuniversität mit einem MSc abgeschlossen. Seit 1997 engagiert sie sich bei verschiedenen aktivistischen, künstlerischen, literarischen und kuratorischen Initiativen. Mitarbeiterin an der imaginären Kunstinstitution krёlex zentre. Autorin von Texten und Filmen, Pädagogin, Performancekünstlerin und Wissenschaftlerin. Arbeitet oft mit der Künstlerin Maria Vilkovisky zusammen.

 
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