TQW Magazin
Alexandra Augustin über Ghost Writer and the Broken Hand Break von Miet Warlop

Ghosteen in the Machine

 

Ghosteen in the Machine

Unbehagen und Glücksgefühl sind zwei menschliche Empfindungen, die eigentlich nicht unbedingt miteinander in Verbindung stehen. Außer vielleicht beim Verzehr von scharf gewürzten Speisen, bei einer Fahrt mit der Achterbahn – oder beim Konsum von hochwertigem Heroin. Dass man nach dem Setzen eines Schusses ein Schwindelgefühl empfindet, das bis zum Erbrechen führen kann, soll sowohl ein Qualitätsmerkmal als auch eine Nebenwirkung des Opioids darstellen. Je hochwertiger und reiner der Stoff, so meinen manche Insider*innen, desto heftiger werden die Eingeweide und die Sinnesorgane durchgebeutelt.

Freilich lassen sich Rauschmomente, die Ausschüttung körpereigener Endorphine und große Ekstase auch körperschonender erreichen. Durch Sex. Durch Musik. Durch Sport.

Fans und Anhänger*innen der Technokultur wissen um den Moment der Glückseligkeit, der sich im ganzen Körper nach einer die Gehörgänge und die Muskeln strapazierenden Nacht breitmacht. Wenn sich auf dem Heimweg der Gehsteig unaufhaltsam weiterdreht und Erschöpfung, Glück und Entspannung gleichermaßen erfahrbar sind. Es ist ein ähnliches Gefühl, das man nach dem Besuch der Performance Ghost Writer and The Broken Hand Break von und mit Miet Warlop empfindet; ein wahnwitziger Tanztrip, eine körperliche Grenzerfahrung, deren Wirkung die Sinneszentren des Publikums nicht verfehlt; Tanz, Techno und Religion, konzentriert auf ein paar Minuten auf der Bühne des Tanzquartiers.

Wheel of Fortune

Drei Performer*innen drehen sich 45 Minuten lang gegen den Uhrzeigersinn um die eigene Körperachse – und das mit scheinbar großer Leichtigkeit. Der ganze Raum ist in Dunkelheit gehüllt, drei Lichtspots von der Decke sind auf die Bühne gerichtet und rahmen das Geschehen ein. Dazu ertönen pulsierende Beats, die sich innerhalb eines Wimpernschlags von experimenteller elektronischer Musik hin zu einem unkontrollierten Berghain-Technobeat verdichten – um sich dann plötzlich und kompromisslos in ein musikalisches Hybrid zu verwandeln, das an die Musik der Einstürzenden Neubauten, die Energie von Punkbands wie Suicide und die subversive Kraft der frühen Peaches erinnert. Dazu mantrahafte Sprechgesänge. Als wäre das noch nicht genug, beginnen die drei Performer*innen, während des endlos wirkenden Drehtanzes selbst noch mit allerhand Instrumenten zu hantieren: Sie spielen Gitarre und schlagen mit Sticks auf Becken und Tomtom-Trommel. Diese Geräte werden den Performer*innen von Assistent*innen während des pausenlosen Kreistanzes mit größter Präzision und Vorsicht gereicht.

Man selbst sitzt reglos im Sesselkreis rund um das Geschehen und folgt mit zuckenden Augenbewegungen den immer schneller oder auch langsamer werdenden drei Performer*innen. Bis in die kleinste Pore graben sich die Schläge hinein, sodass sich einem die Körperhaare aufstellen. Man nimmt eine große Übertragungsenergie wahr, meint, jeden schweren Atemzug, jede Bewegung der Performer*innen nachzuspüren zu können. Man fühlt ein Unbehagen, wenn sich nicht nur die Tänzer*innen, sondern auch die Lichtkegel und die gesamte Performance zu drehen beginnen und dem Sesselkreis rundherum mit den Besucher*innen gefährlich nahe kommen. Die Grenzen zwischen Bühne und Publikum scheinen aufgelöst, und jeder einzelne Moment der Performance oszilliert zwischen Kontrolle und Kontrollverlust. Auch das eigene Gehirn schaltet sich beim Betrachten des Schauspiels in eine Art Trancemodus: Plötzlich werden alle Gedanken weggeblendet. Stattdessen tauchen die buntesten Bilder auf, die einst tief in den Gehirnwindungen abgespeichert waren: eine gleißend warme Sommernacht auf einem Musikfestival, schwere Gitarrensounds in der Luft. Ein Waldspaziergang im Winternebel. Eine turbulente Nacht in irgendeiner lichterfüllten Großstadt. Momente, in denen man sich frei gefühlt hat. Vielleicht erlebt man so diese berühmten letzten Sekunden vor dem Tod, in welchen die eindrücklichsten Bilder des Lebens im Schnelldurchlauf noch mal durchgespielt werden: das Rad des Lebens, der ewige Kreislauf, es dreht sich alles weiter und weiter.

„Music is a means of rapid transportation“, hat der Komponist John Cage einst gesagt. Musik hat die Kraft, uns Menschen innerhalb von Sekunden in eine andere Stimmung zu versetzen: in andere Kulturen, andere Sphären, neue Universen. Und die kluge Musikerin Patti Smith hat ein Rezept für den inneren Frieden formuliert: „Put away your cell phones, put everything away, and feel your blood pulsing in you, feel your creative impulse, feel your own spirit, your heart, your mind. Feel the joy of being alive and free.“

Diese Freiheit zu finden ist auch der zugrunde liegende Impuls des Drehtanzes der Derwische, von der Ghost Writer and The Broken Hand Break inspiriert ist: Diese drehen sich bei ihren Zeremonien bis zur Ekstase im Kreis, werden selbst zum kreisenden Rad, zur Mitte des Universums. Musik, Tanz, Körper und Herzschlag verschmelzen im Rhythmus. Der Drehtanz ist eine „Leiter zum Himmel“ und eine Konzentration auf die Gegenwart; oder auch im Verständnis des Tawhid, der Wissenschaft von der Einheit allen Seins, die Möglichkeit, die „Einheit mit Gott“ zu finden – das eigentliche Ziel des Lebens. Um dorthin zu gelangen, bedarf es bekanntlich großer Anstrengung. Im Kampf gegen das innere Selbst, das Ego, den störenden Geist müssen sämtliche Blockaden beseitigt und durchbrochen werden.
Egal ob im Nachtclub, bei religiösen Zeremonien oder im Theaterraum: Erst auf dem schmalen Grat zwischen Unbehagen und Hingabe warten unvergessliche Momente, Glückseligkeit, Freiheit, große Kunst und Transzendenz. Momente, nach denen wir Menschen streben und die wir in allen Kulturen erreichen wollen – so wie Pflanzen ihre Triebe der Sonne und dem Himmel entgegenstrecken.

„Break the hand brake and roll the wheels“, nimmt man als Aufforderung, als eingebranntes Mantra mit aus der musikalischen Performance, ebenso wie eine Portion Glück, die allein durch das Betrachten und das Dabeisein entstanden ist. Ein großer Kontrollverlust – im besten Sinne.

 

Alexandra Augustin ist Journalistin und arbeitet als Moderatorin und Redakteurin bei den ORF Radios FM4 und Ö1. Neben ihrer Tätigkeit beim ORF hat Augustin außerdem Artikel für diverse Magazine verfasst, etwa für DATUM – Seiten der Zeit, WIENERIN – Das Österreichische Frauenmagazin und an.schläge – Das feministische Monatsmagazin. Sie beschäftigt sich als Redakteurin vor allem mit den Themenbereichen Musik, Kunst & Kultur und Lebensarten. Sie hat Videokunst, Performative Kunst und Malerei an der Akademie der bildenden Künste Wien studiert.

 
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